Kulturwellen, Kulturströme – Rückblick auf die Jahrestagung 2013

Auch die diesjährige Tagung des Studienkreises (6. bis 7. Mai 2013) fand in Kooperation mit dem renommierten Branchentreff Medientreffpunkt Mitteldeutschland (MTM) in Leipzig statt. Das Thema Kulturradios setzte einen Schwerpunkt, der an die kontroversen Diskussionen über Profile und die Legitimität „teurer“, zumeist öffentlich-rechtlicher Kulturwellen anknüpfte und auf ein erstaunlich reges Interesse stieß.

Die gegenwärtigen Entwicklungen stellen sowohl medien- und programmästhetische als auch gesellschaftspolitische Fragen. Wie können diese oftmals feuilletonistischen, lang bestehenden Programme in den Koordinaten digitaler Lebens- und Rezeptionsweisen gedacht werden? Sind die Netzmedien eine gute und solide Basis für qualitätsorientierte Medienprogramme? Wie können Strukturen umgebaut oder angepasst werden, um weiterhin in einem öffentlich-rechtlichen Kontext „Kultur” zu programmieren?

Los ging es mit Corinna Lüthje (Universität Hamburg), die in ihren methodologischen Überlegungen vor allem den Kulturbegriff dieser spezifischen Radioangebote diskutierte. Kulturradios griffen eher auf ein Konzept zurück, das von einem Alltagsverständnis von Kultur ausgeht. Sie wenden sich damit einem erweiterten Kulturbegriff zu, der die alte, überkommene Dichotomie von Hochkultur vs. Populärkultur bzw. eine Verengung auf Klassik auflöse. Frank Schätzlein hingegen thematisierte ein „altes Problemfeld“, nämlich die Aufmerksamkeit der Hörer. Ein Fazit seines Vortrages: die Pluralität von Hörweisen müsse akzeptiert werden. Anhand der Auswertung bildlicher Darstellungen vom Radiohörer in den Selbstdarstellungen der Sender konnte er zeigen, wie sich die Vorstellungen von einer idealen Hörerschaft im Laufe der Zeit gewandelt haben, aber auch heute noch allzu oft vom hochkonzentrierten Einschalthörer ausgehen.

Jens Wendland (Honorarprofessor an der Universität der Künste Berlin, zuvor u.a. langjähriger Hörfunkdirektor des SFB) präsentierte eine historische Miniatur zum Herausgeber-Radio des SFB und des NDR, einem Projekt der 1960er Jahre, bei dem deutsche Literaten großen Einfluss auf das Radio ausübten. Tom Wilke (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) setzte einen stark empirischen Akzent, in dem er exemplarisch das Musikangebot des Monats April 2013 von DRadio Kultur analysierte. Eine genaue Musikfarbe war dabei nicht zu ermitteln, aber die funktionalen Bezüge zwischen Wortprogramm und Musikauswahl traten umso stärker hervor. Dieser Aspekt wurde während der Tagung noch mehrfach aufgegriffen.

Schließlich bot Bettina Wodianka (Universität Basel) noch eine Perspektive auf artifizielle Klangräume des Radios, indem sie anhand von Aufnahmen Rolf Dieter Brinkmanns darstellte, wie künstlerische Praktiken das Medium infrage stellen und seine kommunikativen und ästhetischen Paradigmen aktiv weiter treiben.

Ekkehardt Oehmichen, ehemals Leiter der Medienforschung des Hessischen Rundfunks, erläuterte am zweiten Tag mit seiner Keynote „Kultur und Radio im Wandel“, welchen Stellenwert das Radio als Informations-, Wissens- und Kulturvermittler heute besitzt. Insbesondere ging er auf die maßgeblich von ihm entwickelte Mediennutzer-Typologie ein, die auch eine aussagekräftige Basis für die Profilstärkung von Kulturradios darstellen kann. Innerhalb der Mediennutzer-Typologie, die insgesamt zehn Gruppen umfasst, identifizierte Oehmichen fünf, die kultur- und wissenschaftsaffin sind und auch komplexeren Medienangeboten wie den Kulturradios folgen. Deshalb sei die Akzeptanz von Kultur- und Inforadios recht stabil geblieben.

Im abschließenden Podiumsgespräch ging es auch dank einer regen und kontroversen Publikumsdiskussion teilweise recht lebhaft zu. Besetzt war das Podium mit: Oliver Sturm (freier Hörspielmacher), Detlef Rentsch (MDR FIGARO), Hans Dieter Heimendahl (Deutschlandradio Kultur), Barbara Gerland (Deutschlandradio Kultur), Christian Bollert (detektor.fm). Hans-Jürgen Krug (freier Medienwissenschaftler) moderierte dieses Panel. Einig waren sich alle Teilnehmer, dass das Netz große Potenziale für Kulturradios bietet, da ein stabiler Anteil von Hörern vor allem Inhalte sucht. Christian Bollert von detektor.fm konnte diese Position aus eigenen Erfahrungen plausibel bestätigen. Es gehe oft um Übersetzungsleistungen, um neue Perspektiven auf „klassische Themen“.

Überhaupt: die Meinungen auf dem Podium waren nah beieinander. Es hätte auch kontroverser, offensiver zugehen können. Detlef Rentsch sprach von der Anmutung eines ganzheitlichen Kulturradios, das er bei MDR FIGARO wirkungsvoll umgesetzt sah. Außerdem brach er eine Lanze für das Fortbestehen von UKW-Sendern, eingebettet in die digitalen Möglichkeiten. Das analoge Programm bleibe das „Mutterschiff“. Hans Dieter Heimendahl wies nochmals darauf hin, dass die Kulturradios selbst Akteure der Kulturproduktion sind. Sie leisten wichtige Beiträge bei der Abbildung von Kultur, bei der
Kulturkritik und zur Debattenkultur des Landes. Zugleich aber müsse man sich entscheiden: im Kulturradio sei nicht totales Crossover von Bushido bis Bach angesagt.

Oliver Sturm wies auf die Gefräßigkeit des Netzes hin. Das kulturelle Erbe, z.B. der Hörspielproduktion, müsse endlich umfänglich verfügbar werden. Das Publikum konfrontierte diese Sichtweisen mit anderen Perspektiven. So stellte ein Zuschauer die provokante Frage: Müssen Kulturradios erfolgreich sein? Eine Antwort darauf konnte es abschließend nicht geben. Daraus entspannen sich diverse weitere Dispute, unter anderem um die Frage, welchen Sound Kulturradios anbieten sollten. Dem Sound-Konfektionsdrang setzte Christian Bollert ein einfaches, aber sehr überzeugendes Argument entgegen: Musik ist Haltung, nicht die Farbe entscheidet. Bekanntermaßen können Haltung oder Attitüde vielgestaltig klingen.

Auch gesellschaftpolitisch tauchten Fragen auf, bei denen gut nachzuhaken gewesen wäre. Wie können die traditionell linearen „kulturellen“ Programmangebote in die nonlinearen Strukturen des Internets überführt werden? Welche Zukunft haben qualitätsorientierte Medienprodukte in Zeiten der Ökonomisierung? Ist es wirklich notwendig, die Existenz bisheriger klassischer „Kulturwellen“ unter ökonomischen und legitimatorischen Gesichtspunkten so radikal in Frage zu stellen? Eröffnet sich hier vielmehr nicht ein neues Medienmarktsegment, dessen Ausbau unterstützt werden muss? Wenn der öffentliche Kulturauftrag des Hörfunks bleibt, mit welchen Maßstäben können wir seinen gesellschaftlichen Wert messen?

Die Tagung „Kulturwellen, Kulturströme. Kultur, Radio und Internet“ beleuchtete diese miteinander verwobenen Prozesse in einer historischen und gegenwartsbezogenen Perspektivierung. Die Panels waren gut besucht, allerdings wäre eine regere Teilnahme von Studienkreismitgliedern mehr als wünschenswert. Da die Studienkreis-Tagungsteilnehmer auch alle Veranstaltungen des MTM besuchen konnten, ist es schade, dass das außerordentlich attraktive Angebot nur verhalten genutzt wurde. Der Vorstand des Studienkreises sowie die Veranstalter des Medientreffpunktes ziehen eine positive Bilanz der Zusammenarbeit.
Uwe Breitenborn, Magdeburg/Halle

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