Mangelnder Zugang zum Medienerbe behindert Zeitgeschichtsforschung

Interview mit Leif Kramp zur „Initiative Audiovisuelles Erbe“

Lesezeit: ca. 6 Minuten

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Dr. Leif Kramp (Forschungskoordinator des Zentrums für Medien-, Kommunikationsund Informationsforschung der Universität Bremen) ist Gründungsmitglied der „Initiative Audiovisuelles Erbe“, die in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist. Margarete Keilacker bat ihn daher, diese vorzustellen.

Warum und wann wurde diese Initiative gegründet?
Kramp: Die Idee der Initiative geht zurück auf einen Workshop im September 2009 am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, in dessen Rahmen versucht wurde, die Frage besserer Zugangsmöglichkeiten zu den historischen AV-Medienbeständen systematisch anzugehen. Der Impetus, der die Initiative bis heute antreibt, resultiert aus der zentralen Relevanz audiovisueller Medienüberlieferungen für das Verständnis der Zeitgeschichte: Ohne unser Medienerbe, allen voran das des Fernsehens und des Radios, lässt sich Zeitgeschichte nur ungenügend erforschen. Mehr noch: AV-Medien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten derart tief in die Alltagspraktiken unserer zunehmend mediatisierten Kultur eingeschrieben, dass sie für sämtliche Lebensbereiche und Lebenswirklichkeiten eine signifikante Rolle spielen. Die Zugangsfragen betreffen daher auch hochaktuelle Themen wie die Digitalisierung, das Urheberrecht oder die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Wie ist die Initiative organisiert?
Kramp: Die Initiative versteht sich als informelles Netzwerk aus Historikern, Kommunikations- und Medienwissenschaftlern, Archivaren und Sammlungsleitern kultureller Organisationen. Bislang sind über 30 Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland und Europa beteiligt. Sie alle sind regelmäßig mit Zugangsproblemen konfrontiert, sei es in Forschung und Lehre, bei der Kulturarbeit im Allgemeinen, aber auch im Rahmen der Arbeit in den Senderarchiven. Die Initiative ist vor diesem Hintergrund sowohl Interessenvertretung als auch Forum für den Austausch zwischen Nutzungsinteressenten und Verwaltern des AV-Erbes. Auch wenn der höchst unterschiedliche Umgang mit der Problematik in anderen Ländern von uns aufmerksam beobachtet wird, konzentriert sich die Initiative auf die konkrete Situation in Deutschland.

Forschende und Lehrende beteiligt

Ist das nicht ein Widerspruch, wenn sich in der Initiative auch Kolleginnen und Kollegen aus Europa engagieren und es trotzdem nur um die Situation in Deutschland geht?
Kramp: Es sind auch Kolleginnen und Kollegen involviert, die an Hochschulen im europäischen Ausland forschen und lehren und dabei auf audiovisuelle Medienüberlieferungen aus Deutschland angewiesen sind oder sich auch ganz explizit mit der deutschen Rundfunkgeschichte befassen. Es gibt ja auch viele deutschsprachige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler medienaffiner Disziplinen, die im Ausland arbeiten.

Wer beteiligt sich bisher? Und wer unterstützt Ihr Anliegen?
Kramp: Zu den beteiligten Disziplinen gehören die Medien- und Kommunikationswissenschaft, die Geschichtswissenschaft und die Kulturwissenschaft. Über die großen Fachverbände wie die Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM), die Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) und den Historikerverband sind Forschende und Lehrende gleichermaßen beteiligt. Unterstützt wird die Initiative aber durch Kultureinrichtungen – von Museen bis hin zu Mediatheken – und nicht zu vergessen durch Vertreter der Rundfunkarchive.

Strukturelle Defizite bei der Endarchivierung

Welche Probleme stehen im Vordergrund?
Der Eindruck, dass wir im Zeitalter der Digitalisierung auf mehr historische AV-Inhalte als jemals zuvor zugreifen können, täuscht leicht über die strukturellen Defizite hierzulande bei der Endarchivierung von audiovisuellen Medienüberlieferungen hinweg. Auch heute noch ist der Zugang zu historischen Quellen aus Funk und Fernsehen stark eingeschränkt, weil sich die Senderarchive primär als Produktionsarchive verstehen und es daher schon vor dem Hintergrund ihrer Budgetierung nicht als ihre Aufgabe begreifen und zum Teil auch nicht begreifen können, Anfragen vonseiten der Wissenschaft, Bildungs- und Kulturarbeit in zuverlässiger Weise zu erfüllen. Es fehlen verbindliche Zugangsrechte für diese Nutzergruppen, welche die Störfaktoren in den Archiven wie personelle Kapazitätsprobleme und juristische Unsicherheiten zu überwinden helfen. So kommt es immer wieder vor, dass Wissenschaftler bei Materialanfragen abschlägige Antworten bekommen oder horrende Gebühren zahlen müssen. Außerdem gibt es in den Sendern ein uneinheitliches Vorgehen bei der archivischen Behandlung
von Kontextüberlieferungen wie im Falle von Schriftgut – ein für die Forschung ganz wesentlicher Quellenbestand, der jedoch in den Sendern für die Programmabwicklung eine untergeordnete Rolle spielt.

Wie will die Initiative die Öffentlichkeit erreichen? Im Moment ist sie im Internet kaum zu finden. Nur bei VOCER (Medien.Kritik.Debatte. Unabhängiges Portal für Medien- und Gesellschaftsthemen) gibt es einige Texte von Christoph Classen und Ihnen zur Problematik („Das zugemauerte Fenster zur Welt“ oder „Was von uns bleibt“).
Kramp: Die Mitglieder engagieren sich hauptsächlich dezentral. Damit die Initiative und ihre Ziele noch sichtbarer werden, haben wir Anfang des Jahres 2011 die Website www.averbe.de ins Leben gerufen. Sie wird redaktionell vonseiten des ZZF in Potsdam gepflegt, gibt Interessenten einen ersten Überblick, nennt Ansprechpartner und informiert über Projekte, politische Entscheidungen, Veranstaltungen und weitere Termine, die für die Zugangsproblematik von Belang sind. Mittlerweile gibt es auch eine Seite bei Facebook. Neben dieser Form der Öffentlichkeitsarbeit melden sich Mitglieder der Initiative in unregelmäßigen Abständen mit Gastbeiträgen oder als Experten in unterschiedlichen Medien zu Wort. In der Vergangenheit konnte man über die Arbeit der Initiative unter anderem in der „Süddeutschen Zeitung“, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und eben auch bei VOCER lesen.

Welche Aktivitäten planen Sie für die nächste Zeit?
Kramp: Unser primäres Anliegen ist es, sowohl die allgemeine Öffentlichkeit als auch Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft für eine bessere Verfügbarkeit des Kulturguts AV-Medien zu sensibilisieren. Wir führen deshalb z.B. Hintergrundgespräche mit Politikern, sprechen auf großen Fachkongressen wie zuletzt beim Deutschen Historikertag und demnächst bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft und beteiligen uns an Grundlagenpapieren wie im Falle des Abschlussberichts der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft, um möglichst breit, aber auch präzise und differenziert auf die Defizite, die aus unserer Sicht existieren, einzugehen und Lösungsvorschläge zu diskutieren.

Mehr Aktive gefragt

Können sich die Mitglieder des Studienkreises oder andere Interessierte einbringen?
Kramp: Wir würden uns natürlich sehr über weitere Unterstützer freuen. Unser Projekt lebt von einem vielgliedrigen Netzwerk aus aktiven Beteiligten, die sich mit ihren Erfahrungen, Ideen und Kontakten in die unterschiedlichen Aktivitäten der Initiative einbringen. Mitglieder des Studienkreises Rundfunk und Geschichte sind bereits seit Gründung der Initiative an ihr beteiligt und haben ganz wesentlich zur Formulierung unserer konsensualen Leitlinie beigetragen, die von den beteiligten Archivaren genauso unterstützt wird wie von denjenigen Mitstreitern, die sich in der Zugangsfrage eher in der Rolle eines Bittstellers sehen. Interessierte können sich gern bei Christoph Classen vom ZZF (classen@zzf-pdm.de) oder mir (kramp@uni-bremen.de) melden.

One Response to “Mangelnder Zugang zum Medienerbe behindert Zeitgeschichtsforschung”

  1. Wolfgang Hermpel

    Lien Frau Keilacker, gerne hätte ich Ihre aktuelle E-Mail-Adresse und die bon Leif Kramp. Eine E-Mail an Sie margarete.keilacker@gmx.de wurde mir als unzustellbar gemeldet. Beste Grüße Wolfgang Hempel

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