Geschichtsfernsehen verantwortlicher gestalten

Gespräch mit Silke Satjukow

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Dr. Silke Satjukow ist Professorin für die Geschichte der Neuzeit am Institut für Geschichte der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sie koordiniert (gemeinsam mit Prof. Dr. Rainer Gries, Universität Wien) den Forschungsverbund „Geschichtsaneignungen in der Mediengesellschaft“. Margarete Keilacker sprach am 18. Februar 2016 mit ihr über dieses Projekt.

Frau Satjukow, Sie koordinieren den Forschungsverbund „Geschichtsaneignungen in der Mediengesellschaft“, der an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg angesiedelt ist. In rundfunkgeschichtlichen Kreisen ist das Projekt
leider wenig bekannt. Können Sie es deshalb kurz vorstellen?

In diesem Netzwerk haben sich Nachwuchswissenschaftler und Professoren zusammengefunden, allerdings nicht so sehr, um danach zu fragen, wie „Geschichtsprodukte“, etwa Filme oder Computerspiele, gemacht sind. Das schauen wir uns natürlich auch an, aber wir fragen vor allem danach, wie diese „Geschichtsprodukte“ seitens des Publikums angenommen werden. Was passiert mit den Köpfen und Herzen der Zuschauer? Wie eignen sie sich die offerierten Botschaften an? Der Hintergrund ist, dass wir in der Vergangenheit unzufrieden darüber waren, dass in der mittlerweile üppigen Literatur über Geschichte in Film und Fernsehen oft erzählt wurde, welche Intentionen die
Produzenten und die Regisseure leiteten, was der Film ihrer Meinung nach transportieren sollte. Aber wir wissen inzwischen aus der Aneignungsforschung, dass diese Fragedimension nicht genügt. Das Publikum eignet
sich Film- oder Spielbotschaften höchst eigenständig an, und zwar auf der Basis der eigenen Biografien, in Peergroups, auch in Internetgruppen. D.h. im 21. Jahrhundert hat sich so einiges getan, was die Rezeption
und Aneignung von Filmen und Geschichtsfilmen im Besonderen angeht. Und wir fragen danach.

Im Frühjahr 2014 veranstalteten wir eine erste Tagung. Das war eher ein interner Workshop, wo Fachleute zusammenkamen, die sich im engeren Sinn mit Medienrezeption beschäftigen. Das waren Mediensoziologen, Medienpsychologen, Historiker, Geschichtsdidaktiker, Leute aus der Praxis, wie der Programmleiter von 3sat.
Mittlerweile forschen etwa ein Dutzend Nachwuchswissenschaftler zu verschiedenen Bereichen der Geschichtsaneignung. Zunächst benötigen wir qualitative und quantitative Grundlagenarbeit.

Als Ergebnis liegt also bisher dieser Workshop vor sowie laufende Dissertationen…

… und wir bereiten gerade eine Publikation vor, in der sich Experten unterschiedlicher Disziplinen zusammensetzen und gemeinsam ein Buch schreiben. Das heißt, wir treffen uns regelmäßig, um das Konzept des Buches zu erarbeiten, auch an den disziplinären und transdisziplinären Methoden zu feilen und die einzelnen disziplinären Forschungsergebnisse zu besprechen. Diese Ergebnisse sollen in einer Art Grundlagenwerk als ein erster Befund der Wissenschaftscommunity vorgestellt werden. Der Forschungsverbund existiert erst seit 2014. Das ist ja noch nicht allzu lange. Wir haben bewusst vermieden, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt an eine größere Öffentlichkeit zu treten. Es schien uns klüger, zunächst in einem kleineren Rahmen zu diskutieren und erste Ideen und Projekte
vorzustellen. Mittlerweile freilich liegen uns erste Ergebnisse vor, die wir in der besagten Publikation mit Medienpraktikern besprechen und allgemein öffentlich machen wollen.

Sie sprachen von der „Mediengesellschaft“. Welche Medien beziehen Sie ein?

Herkömmliche Medien ebenso wie die sogenannten „neuen“ Medien. Einige unserer Partner befassen sich mit Geschichtsaneignungen in Gedenkstätten, andere fragen danach, wie Geschichtsmedien im Schulunterricht rezipiert
werden. Die meisten Mitstreiter widmen sich aber Filmaneignungen. Sie fragen auch danach, wie die Aneignung von
Filmen im Internet repräsentiert ist. Sie wissen ja, dass gerade junge Leute nicht mehr so sehr auf die Mattscheibe schauen, sondern die Streifen im Internet sehen. Und parallel dazu facebooken und twittern
sie, tauschen sich also in der Community aus. Diese Anschlusskommunikationen schauen wir uns an, denn sie geben viel von den Publika preis. Natürlich bedienen wir uns auch „konservativerer“ Methoden der qualitativen und
quantitativen Sozialforschung, indem wir Jugendliche zu ihren Aneignungsstrategien befragen.

Neben Filmrezeptionen interessiert uns auch das Verhalten der User von historischen, respektive historisierenden Computerspielen. Wenn man sich einen Film anschaut, eignet man sich sich diesen zwar ganz eigenständig und eigensinnig an, aber beim Computerspiel kommt noch eine Qualität hinzu: Wenn Sie etwa Games zum Zweiten Weltkrieg spielen, schlüpfen sie automatisch in eine Rolle – SS, Amerikaner, Franzosen, Russen, was immer sie wollen – alles ist möglich. Und Sie schießen auch selbst, Sie lenken das Geschehen, führen Krieg. Und das führt dazu, so eine unserer Thesen, dass Sie nicht mehr so genau unterscheiden zwischen „ich war da selber dabei“ und „ich habe das gelesen“. Das heißt, die Spieler werden womöglich partiell zu Zeitzeugen. Dies würde eine ganz neue Qualität darstellen. Wir wissen ja, dass solche Computerspiele zunächst kommerziellen Interessen gehorchen. Wenn aber jetzt der Spieler den Eindruck erlangen würde: „Sag mir nichts über den Krieg, ich war ja dabei, habe ihn selbst geführt“, müssen wir danach fragen: Was bedeutet diese imaginierte „Zeitzeugenschaft“ für die Ausbildung
eines Geschichtsbewusstseins?

Sie sagen selbst, dass das eine These ist. Gibt es denn schon gesicherte Ergebnisse?

Die ersten Ergebnisse liegen vor. Wir haben verschiedene Untersuchungen zu den Fernsehproduktionen „Unsere Mütter – unsere Väter“, „Die Flucht“ sowie zur Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“ durchgeführt. Zu dem Zweiteiler „Der Turm“ ist an unserem Institut gerade eine Promotion in Arbeit. Ich möchte das Problem am Beispiel „Unsere Mütter, unsere Väter“ verdeutlichen. Da haben wir ein halbes Jahr lang Befragungen unter jungen Leuten, aber auch intergenerationell in Familien gemacht und Folgendes festgestellt: Die jungen Zuschauer identifizierten sich mit den Protagonisten, als wären sie ihre Großväter. Sie versuchten – hoch emotionalisiert – zu rechtfertigen, weshalb die beiden Protagonisten Friedrich und Wilhelm damals auf so grausame Weise gehandelt, ja sogar gemordet haben. Diese Identifikation mit den „Filmhelden“ führte zu einer Entschuldigung und letzten Endes zu einer Entschuldung. Etwas ähnliches geschah bei der „Flucht“. Die Probanden führten in Bezug auf die historische Verantwortung aus: Die deutschen Zivilisten seien hilflose Opfer gewesen. Die eigentlichen Täter seien „die Russen“, die nun mit Schimpfwörtern wie „Bestien“, „Schweine“ oder „Tiere“ bedacht wurden.

Wie kommt es zu solchen ahistorischen Interpretationen?

Die Antwort liegt in den Filmbildern begründet. Hier findet sich eine minutenlange Nahaufnahme einer Vergewaltigung
einer deutschen Frau (im Film eine Sympathieträgerin) durch die Rotarmisten. Es folgt noch ein detailliert vorgeführter Tieffliegerangriff der Roten Armee auf die frierenden und wehrlosen Fluchttrecks. Beides führte dazu, dass die jungen Zuschauer – obwohl die historischen Geschehnisse wissenschaftlich längst erforscht sind – die Frage nach den „Opfern“ und den „Tätern“ in ihr Gegenteil verkehren. Nicht etwa, weil der Film im Ganzen insinuiert, „die Russen“ seien böse gewesen und die Deutschen bar jeder Schuld. Am Anfang des Films
hört man eine Off-Stimme völlig korrekt sagen: „Die Deutschen haben weißrussische Dörfer überfallen und hohe Schuld auf sich geladen.“ Aber es ist eben nur eine Stimme aus dem Off, danach kommt die Vergewaltigungsszene,
nah herangezoomt und unendlich langsam vorgeführt.

Solche Bilder wirken in den Köpfen, das sagt ihnen jeder Werbepsychologe, es wirkt ganz
anders als die Off-Stimme. So verkehren sich die Botschaften – womöglich ohne, dass die Regisseure
eine solche Absicht hegten. Solche Befunde sind besorgniserregend. Die Sender geben viele Millionen Euro für Streifen wie „Die Flucht“ aus und sie haben einen öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag. Und am Ende kommt in den Köpfen jugendlicher Zuschauer an: Deutsche Zivilisten waren unschuldig (Maria Furtwängler alias Gräfin Lena von Mahlenberg spielt eine Junkerstochter!), „die Russen“ waren entmenschlichte Bestien. Das langlebige Stereotyp, der Russe als Untermensch, wiederholt sich hier eins zu eins. Das kann das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht anstreben!

Das klingt nach sehr überraschenden Ergebnissen. Nun ist das Projekt auf lange Sicht europäisch angelegt. Worin zeigt sich denn dieses Europäische, sowohl inhaltlich als auch personell?

Wir sind ja noch ganz am Anfang. Zunächst einmal ist Österreich ein fester Partner, Rainer Gries, der Koordinator des Projektes, lehrt in Wien Geschichte und Kommunikationswissenschaft. Wir bereiten soeben einen Forschungsantrag auf europäischer Ebene vor. Es ist aus unserer Sicht enorm wichtig zu fragen, wie sich junge Leute, Polen, Tschechen, Niederländer, Franzosen, Österreicher und Deutsche, solche internationalen „Geschichtsprodukte“ aneignen. Bekanntlich wurde „Unsere Mütter, unsere Väter“ in über 80 Länder verkauft. Aber nicht nur internationale, sondern auch die jeweiligen nationalen Produktionen sollen untersucht werden. Wie denken und fühlen Nachgeborene in Europa über den Zweiten Weltkrieg und welche Folgen hat dies für ihr „Europäisch-Sein“? Wie gehen wir in Europa mit der je eigenen Schuld und – daraus resultierend – mit Verantwortung um?

Tagtäglich lesen wir in den Medien, dass die Menschen gegenwärtige Krisen eng mit der Vergangenheit verknüpfen. Wir fragen in all unseren Vorhaben immer wieder danach, wie sich die jungen Generationen über die Vergangenheit verständigen, ob sie am Ende gemeinsame Perspektiven aushandeln, oder eben nationale oder gar nationalistische.

Mehr zum Projekt unter: http://www.geschichtsaneignung.ovgu.de/

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