Heft 3–4/2022

Beiträge

Kristina Wittkamp
Das sowjetische Radio zwischen sozialistischer Rundfunkvision und Edutainment

Abstract
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dem sowjetischen Rundfunk und der Konzeption einer spezifischen sowjetischen beziehungsweise sozialistischen Rundfunkvision als Alternative zu westlichen, öffentlich-rechtlichen und kapitalistischen Rundfunkkonzepten. Daraus ergab sich ein Spannungsfeld von Propaganda, Unterhaltung und Programmfunktion in der alltäglichen Programmgestaltung, in welcher die Medienmacher*innen zwischen Informationsmonopol, Gegenpropaganda und Konzessionen an Rezipient*inneninteressen lavieren mussten. Dazu gehörte insbesondere die Anpassung des Informations- und Unterhaltungsangebots im unionsweiten Radio. Um den sowjetischen Hörer*innen eine ansprechende Alternative zu den westlichen Auslandssendern zu bieten, amalgamierten die Rundfunkzuständigen und Redakteur*innen Information und Unterhaltung zu einer eigenen Form des >Edutainment, welche Unterhaltung einen zweckdienlichen Informationsauftrag zuschrieb. Spezifisch für den sowjetischen Rundfunk wurde somit die Konzeption von Unterhaltung mit einem erzieherisch-didaktischen Auftrag, wie der Beitrag exemplarisch an den Humor- und Satiresendungen illustriert.

This article analyses soviet radiobroadcasting and the concept of a specific soviet respectively socialist broadcasting vision as an alternative to Western, public-service and capitalist concepts of broadcasting. The broadcasters dealt in their daily routine with the obstacles of propaganda, entertainment requirements and program functions. Therefore, they maneuvered between the requirements of their information monopoly, measures of counterpropaganda and accommodated their daily program to popular interests. By negotiating different types of interest they customized information and entertainment programs in soviet radiobroadcasting. For providing an alternative to foreign western radio programs they fused information and entertainment and thus created a new form of edutainment that provided useful entertainment with information commitment. This concept is illustrated and exemplified in this article by analyzing comedy and satire shows. They proved that meaningful, didactic and educating entertainment became one of the main features of soviet broadcasting.


Kirsten Bönker
Fernsehen jenseits des Eisernen Vorhangs

Abstract
Die aktuellen Programmstrategien des russischen Staatsfernsehens und Umfragen zur Mediennutzung verdeutlichen, dass Fernsehzuschauer*innen auch mit Propagandabotschaften und zensierten Nachrichten affirmativ umgehen können. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass das Fernsehen heute überwiegend ein Medium der älteren Menschen ist, deren Medienkonsum in der Sowjetunion geschult worden ist. Die sowjetische Programmpolitik zielte darauf, mit dem Fernsehen etablierte Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur zu verschieben. Die sozialistische Spezifik des Fernsehens sollte darin bestehen, allen Kunstformen eine Plattform zu bieten und im wörtlichen Sinne „Kunst für das Volk“ zu vermitteln. Den kommunikativen Rahmen für alle Inhalte stellte der sog. autoritative Diskurs, der über wahr und falsch entschied. Er implizierte auch eine spezifische sozialistische Nutzung des Fernsehens, die aber nicht einfach eine routinierte Zustimmung zu offiziellen Werten bedeutete. Vielmehr schuf das Fernsehen einen Zwischenraum, in dem durch Anschlusskommunikation eine gewisse Hybridisierung, Interaktion und emotionale Bindung an das Medium entstand. Diese Konsumpraktiken sind so nachhaltig, dass Bewertungen der gegenwärtigen Unterhaltungsprogramme oft nach wie vor sowjetisch geprägt sind und binäre Denkmuster bei älteren Zuschauer*innen fortbestehen.

The current programming strategies of Russian state television and surveys on media use make it clear that television viewers can also deal affirmatively with propaganda messages and censored news. This effect is reinforced by the fact that television today is predominantly a medium of older people, whose media consumption was trained in the Soviet Union. Soviet programming policy aimed to use television to shift established boundaries between high and popular culture. The socialist specificity of television was to provide a platform for all art forms and to communicate „art for the people“ in the literal sense. The communicative framework for all content was provided by the so-called authoritative discourse, which decided what was true and what was false. It also implied a specific socialist use of television, which, however, did not simply mean a routine assent to official values. Rather, television created an in-between space in which a certain hybridization, interaction, and emotional bonding to the medium emerged through follow-up communication. These consumption practices are so persistent that evaluations of contemporary entertainment programs are often still Sovietized and binary patterns of thought still prevail among older viewers.


Sven Grampp
Kosmische Televisionen des Sozialismus. Eine Gutenachtgeschichte

Abstract
Ausgehend von einer Episode der Reihe Unser Sandmännchen, die zum ersten Mal am 30.8.1978 ausgestrahlt wurde, sollen Facetten und Spezifika dessen anschaulich gemacht werden, was sozialistische Televisionen ausmacht und insbesondere, worin deren visionärer Charakter besteht.

Based on an episode of the series Unser Sandmännchen (Our Sandman), which was broadcast for the first time on 30 August 1978, aspects and characteristics of what constitutes socialist televisions will be made clear. Of particular interest is, what this ‚visions‘ consists of.


Axel Bangert
Televising the Revolution. Die Direktübertragung der Massendemonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 durch das DDR-Fernsehen

Abstract
Dieser Beitrag untersucht die Direktübertragung der Massendemonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 durch das DDR-Fernsehen. Er legt dar, was für politische Entwicklungen zu diesem Medienereignis führten, und inwiefern die Liveschaltung einen Wendepunkt in der Visualisierung der Proteste der ostdeutschen Bevölkerung gegen das SED-Regime bedeutete. Zu diesem Zweck wirft der Beitrag einen Blick auf die Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ sowie das Jugendmagazin „Elf 99“. Um die Inszenierung revolutionärer Öffentlichkeit durch das DDR-Fernsehen zu analysieren, stellt er zudem Vergleiche mit Dokumentar- und Essayfilmen über den Herbst 1989 an. Neben der DEFA-Produktion „In Berlin 16.10.89 – 4.11.89“ (1989) von Jochen Denzler, Hans Wintgen, Lew Hohmann und Petra Tschörtner sind dies „Die führende Rolle“ (1994) von Harun Farocki sowie „Material“ (2009) von Thomas Heise. Besondere Aufmerksamkeit wird der Frage gewidmet, welche Rolle das DDR-Fernsehen dabei spielte, die Vision einer demokratischen Erneuerung des DDR-Sozialismus möglich erscheinen zu lassen.

This article examines the live broadcast of the mass demonstration on Alexanderplatz on 4 November 1989 by GDR television. It sets out to explore the political developments which led to this media event, and to what extent the live broadcast marked a turning point in visualising the protests of the East German population against the SED regime. To this end, the article takes a look at the news programme “Aktuelle Kamera” as well as the youth magazine “Elf 99”. Aiming to analyse the construction of a revolutionary public sphere by GDR television, it also makes comparisons with documentary and essay films about the autumn of 1989. In addition to the DEFA production “In Berlin 16.10.89 – 4.11.89” (1989) by Jochen Denzler, Hans Wintgen, Lew Hohmann and Petra Tschörtner, these are “Die führende Rolle” (1994) by Harun Farocki and “Material” (2009) by Thomas Heise. Special attention is paid to the question of what role GDR television played in making the vision of a democratic renewal of GDR socialism seem possible.


Markus Kügle
Stranger Things? Sozialistische (Tele-)Visionen im Stream

Abstract
Digitale Distributionen von ‚televisionärem‘ Content verändern seit etwa zehn Jahren die Regeln des Marktes signifikant. Wenn wir Historie marxistisch begreifen, hat eine Veränderung auf dem Sektor des Wirtschaftlichen nicht nur Auswirkungen auf den Bereich des Sozialen. Immense Veränderungen hat es diesbezüglich zuletzt beim Video-on-Demand-Anbieter Netflix gegeben. Da es sich hierbei um einen der größten streaming service provider der westlichen Welt handelt, lohnt ein Blick auf die Umstände – von historisch-materialistischer, wie auch von medientheoretischer Warte aus. Im Fokus steht die Serie STRANGER THINGS, genauer die Staffel 4, welche am 27. Mai 2022 ihr erstes Release erfahren hat. Das zweite Release, bzw. die Veröffentlichung des zweiten Teils erfolgte am 01.Juni 2022, was in der Distributionspolitik von Netflix bislang ein Novum darstellt. Darüber soll post-fordistisch nachgedacht werden.

Digital Distribution of ‚tele-visionary’ Content has been significantly changing the rules of the Market for around ten Years. If we understand History in a Marxist way, a Change in the economic Sphere does not only affect the social Sphere. There have recently been immense Changes in this regard at the video-on-demand-provider Netflix. Since this is one of the largest streaming-services in the western World, it is worth looking at the Circumstances – from a historical-materialistic as well as from a media-theoretical Point of view. The Focus is on the STRANGER THINGS series, or more precisely Season 4, which had its first release on May 27, 2022. The second release, or the publication of Volume 2, took place on June 1st, 2022, which is a Novelty in Netflix’s distribution policy so far. This should be thought about in Terms of post-fordistic Economy.

Aus den Archiven

Birgit Bernard
Ideologie trifft Realität
Die Sendereihe „In den Domen der Arbeit“, ein Flopp des NS-Rundfunks

Gespräch

„Unser Chef “ – Eine Erinnerung an den Juristen und medienpolitischen Pionier Christian Schurig
Elfriede Walendy und Ricardo Feigel im Gespräch

Forum

Götz Lachwitz, Maria Luft, Silke Pasewalck, Beate Störtkuhl, Kim Voss und Hans-Ulrich Wagner
Tagungsbericht: Der Osten im Westen. Deutschsprachige Autorinnen und Autoren aus dem östlichen Europa im Rundfunk nach 1945

Götz Lachwitz
Hinweis aus dem DRA: Die Vielfalt der Archive. Eine neue Infoseite auf ard.de lädt ein zur rundfunkhistorischen Forschung

Dissertationsprojekte


Ferdinand Klüsener
Radio und Schizophrenie. Zur Radiotheorie der Schizoanalyse

Abstract
Die Schizoanalyse markiert einen zentralen Einschnitt in der Kunst- und Theoriegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Gleichwohl ist ihre Radiotheorie niemals systematisch formuliert worden. Durch die Referenzierung von Texten, Radioarbeiten und Hörspielen von Antonin Artaud, Franco ‚Bifo‘ Berardi, Hakim Bey, Félix Guattari, Tetsuo Kogawa und Suely Rolnik wird eine solche Theorie, oder werden solche Theorien, freigelegt. Deutlich wird eine Pluralisierung einer Vielzahl von Radiotheorien der Schizoanalyse, und gleichsam eine fragmentarische Schizokultur, die auf klinisch therapeutische Intervention, Mikropolitik und Aktivismus beruht. In ihr verschwimmen die Grenzen zwischen Publikum und Radio.

Schizoanalysis marks a turning point in the history of art and theory in the 20th century. However, its radio theory has never been formulated systematically. Such a theory, or such theories are uncovered by reference to texts, radio works and radio plays by Antonin Artaud, Franco ‚Bifo‘ Berardi, Hakim Bey, Félix Guattari, Tetsuo Kogawa and Suely Rolnik. A pluralization of a variety of radio theories of schizoanalysis becomes understandable, as does a fragmentary schizoculture based on clinical-therapeutic intervention, micropolitics, and ontological activism that blurs the boundaries between audience and radio.

Rezensionen

Markus Behmer und Vera Katzenberger (Hg.)
Vielfalt vor Ort. Die Entwicklung des privaten Rundfunks in Bayern
(Jochen Gaab)

Benjamin Burkhart, Laura Niebling, Alan van Keeken, Christofer Jost und Martin Pfleiderer (Hg.)
Audiowelten. Technologie und Medien in der populären Musik nach 1945. 22 Objektstudien
(Thomas Wilke)

Mitteilungen aus dem Studienkreis

Kai Knörr
Bericht: Medienhistorisches Forum 2022

Kiron Patka
Neuer digitaler Zugang zur Zeitschrift: Rundfunk und Geschichte auf media/rep/

Kai Knörr
Geplante Aktivitäten im Jahr 2023: Studienkreis-Workshop