Heft 1–2/2022

Beiträge

Sigrun Lehnert
Filme der NS-Zeit auf dem besten Sendeplatz: Der Erfolg von Willi Schwabes Rumpelkammer

Abstract

Der Reihe „Willi Schwabes Rumpelkammer“ im Fernsehen der DDR folgten nicht nur Junge und Ältere, sondern hatte viele Zuschauer in der Bundesrepublik. Sechs Folgen waren geplant, aus denen 387 wurden (vom 13.12.1955 bis zum 30.12.1992 ausgestrahlt) – sie ist damit eine der langlebigsten deutschen Fernsehreihen. Auch der Sendeplatz war besonders und lag meist auf 20.00 Uhr.

Als wesentlichen Erfolgsfaktor nennen zeitgenössische Rezensenten das ritualisierte Sendungskonzept. Willi Schwabe war charmanter Plauderer, Erzähler, Gastgeber; mit pointenreicher Wortwahl und kultivierter Stimme passte er sich den alten Filmen an, die er in Ausschnitten anknüpfend an ‚zufällig‘ gefundene Requisiten präsentierte. Schwabe traf selbst die Auswahl der vor 1945 hergestellten Filme. Sie stammten aus dem Staatlichen Filmarchiv der DDR, das 1955 das von der Sowjetunion beschlagnahmte Ufa-Filmarchiv übernommen hatte.

Inmitten politisierter Unterhaltung im DFF-Programm war es Schwabes Ziel, die herausragende Leistung von Schauspieler*innen, von Regie- oder Kameraarbeit zu würdigen. In einigen Sendungen ging er dennoch auf Hintergründe der Filmproduktion in der NS-Vergangenheit ein. Die Erfolgsgeschichte wirft Fragen auf, wie z.B. wurde die Ufa-Traumfabrik tauglich für das sozialistische Fernsehen?


The series “Willi Schwabes Rumpelkammer” on the GDR television was followed not only by young and old, but had many viewers in the Federal Republic. Six episodes were planned, 387 of which were made (broadcast from 13.12.1955 to 30.12.1992) – making it one of the longest-lived German television series. The broadcasting slot was also special and was usually at 8.00 pm.

Contemporary reviewers cite the ritualised broadcast concept as a key success factor. Willi Schwabe was a charming chatterer, narrator, host; with a punchy choice of words and a cultivated voice, he adapted to the old films, which he presented in excerpts linked to props found ‚by chance‘. Schwabe made the selection of the pre-1945 films himself; they came from the State Film Archive of the GDR, which had taken over the Ufa film archive confiscated by the Soviet Union in 1955.

In the midst of politicised entertainment in the DFF programme, Schwabe’s aim was to pay tribute to the outstanding achievements of actors, directing or camera work. In some programmes, however, he went into the background of film production in the Nazi past. The success story raises questions such as: How did the Ufa dream factory become suitable for socialist television?


Fabian Sickenberger, Mira Brunck, Antonia Ross, Lukas Rumpler
Fechner Reloaded. Über die Wiederentdeckung einer vergessen geglaubten Form

Abstract
Eberhard Fechner zählt bis heute zu den einflussreichsten Fernsehdokumentarist*innen Deutschlands. Mit seinem ersten Dokumentarfilm „Nachrede auf Klara Heydebreck“ entwickelte er 1969 eine eigene dokumentarische Erzählform, den „imaginären Tisch“, die er bis zu seinem Tod im Jahr 1992 konsequent verfolgte. In dieser dokumentarischen Spielform werden zahlreiche Interviewte zügig hinter- und gegeneinander geschnitten, sodass aus den verschiedensten Gesprächssituationen eine fortlaufende diskursive Erzählung entsteht. Dieser Beitrag befasst sich inhaltsanalytisch mit Fechners Werk – und mit einer gegenwärtigen Beobachtung: der Renaissance des Fechner’schen Stils im 21. Jahrhundert. Wir stellen die Frage, inwiefern der imaginäre Tisch in aktuellen Produktionen wieder angewandt beziehungsweise weiterentwickelt wird. Im Rahmen einer quantitativen Inhaltsanalyse von acht Filmen (vier aus der Feder Fechners und vier aktuelle Produktionen) wird aufgezeigt, dass a) Fechner seinen eigenen Stil mit der Zeit immer konsequenter pflegte und b) die durch ihn geprägte dokumentarische Form in den vergangenen Jahren immer wieder angewandt worden ist. Dabei wurde sie teilweise leicht modifiziert, insbesondere hinsichtlich der filmischen Ästhetik.

Eberhard Fechner is still one of the most influential documentarists in the history of German TV. He developed his very own documentary narrative form in the course of his first documentary “Nachrede auf Klara Heydebreck” (1969). He consistently pursued this style, which is known as “imaginary table”, until his death in 1992. In this documentary form, numerous interviewees are quickly cut against each other and combined in a way so that a continuous discursive narrative emerges from the most varied situations of conversation. This article deals with Fechner’s work – and makes an observation: the renaissance of Fechner’s style in the 21st century. We are asking the question as to what extent the imaginary table is being used again or has been adapted in current productions. With a quantitative content analysis of eight films (four by Fechner himself and four current productions) it is shown that a) Fechner cultivated his own style more and more consistently over time and b) his documentary style has been applied several times in recent years by various productions – at times slightly modified, especially with regard to cinematic aesthetics.

Marc Limpach
„Vom Reklamesender Luxemburg ist nichts mehr vorhanden …“ Elemente zur Geschichte des „Senders Luxemburg“ unter NS-Besatzung

Abstract
In den 1930er Jahren wurde der kommerzielle, mehrsprachige Sender Radio Luxemburg von Goebbels Propagandaministerium wegen seiner angeblich frankophilen Haltung stark kritisiert. Nach dem deutschen Überfall auf Polen, am 1. September 1939, wurde auf Weisung der luxemburgischen Regierung der reguläre Betrieb von Radio Luxemburg eingestellt und stattdessen zweimal täglich Mitteilungen der Regierung gesendet, was für viele Sprecher, Musiker und Techniker Arbeitslosigkeit zur Folge hatte. Nach dem deutschen Überfall auf Luxemburg, am 10. Mai 1940, wird der Sender kurzzeitig als Wehrmachtsender genutzt. Ab September 1940 wird der Sender Luxemburg „als wichtiger kultureller Faktor des Westens“ von Gauleiter Simon als Propagandainstrument in seine Germanisierungspolitik eingebettet und daneben sukzessive in den Reichsrundfunk integriert. Auf Wunsch von Gauleiter Simon wird der erste (kommissarische) Senderleiter Friedrich Castelle durch Albert Perizonius, den Leiter der Luxemburger Außenstelle des RPA, ersetzt. Für die Reichssendungen liegt der Schwerpunkt auf „guter, aber beschwingter Musik als Grundlinie“, die spezifischen Heimatsendungen sollen die Luxemburger davon überzeugen, dass sie zum deutschen Volkstum gehören. Nach der Befreiung Luxemburgs durch die Alliierten, nahm Radio Luxemburg (ab dem 23. September 1944) seine regelmäßigen Sendungen wieder auf. Dennoch wurden von Dezember 1944 bis Februar/März 1945 vom ‚Europa-Sender‘ Bad Mergentheim luxemburgische Sendungen ausgestrahlt, die jedoch keine substantielle Hörerschaft mehr fanden.

Gespräch

Nicht nur zur Belustigung: 100 Jahre Mundart im Radio.
Kai Knörr im Gespräch mit Florian Schütz, Sina Drews und Ebru Schernau, Museum für Kommunikation Berlin

Forum

ARD Retro

  • Audiovisuelles Kulturgut im Internet: Eine Zwischenbilanz
    Christoph Hilgert
  • Zum Stand der Dinge aus Binnenperspektive
    Interview mit Rabea Limbach
  • Die Mediathek als Archivöffner?
    Leif Kramp

Dissertationsprojekte

Maximilian Brechtenbreiter
Wahlkampf und Imagepolitik. Eine Medienbiographie Edmund Stoibers 1978–2002

Abstract

Zahlreiche Veränderungsprozesse beeinflussen das Verhältnis von politischen und medialen Akteur*innen. Besonders der Aufstieg des Internets seit der Jahrtausendwende prägt den inhärenten Wandel der Medienwelt und führt in Konsequenz zu einem Verlust an Relevanz und Einfluss der früher dominierenden Print- und Rundfunkmedien. Zuvor war es bereits zu einer Diversifizierung des Angebots im Fernsehen durch die Einführung des Privatfernsehens in den 1980er Jahren gekommen. Politische Akteur*innen wie der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber mussten sich an die stets wandelnden Rahmenbedingungen anpassen, wollten sie im Zusammen- und Wechselspiel mit den Medien ein in ihrem Sinne treffendes öffentliches Bild von sich schaffen.

Das Dissertationsprojekt untersucht am Beispiel der politischen Karriere Stoibers von 1978 bis 2002, wie ein konservativer Politiker die Herausforderung „Imagepolitik“ anging. Dafür werden vier größere inhaltliche Säulen definiert: Wahlkämpfe, der Wandel des Mediensystems, Politikberatung bzw. Wahlkampfmanagement und der Kampf um die Deutungshoheit über politische Begriffe. Theoretisch-methodisch orientiert sich das Dissertationsprojekt an aktuellen Forschungsansätzen der Mediengeschichte wie dem Konzept der Medienbiographie, das als zentrales Analyseinstrument dient.


Constant change both technical and institutional determine the relationship between political and medial actors. Especially the expansion of the Internet since the turn of the Millennium has allowed the inherent transformation of the world of media and consequently led to the decrease of relevance and influence of the previously dominating print and broadcast media. Prior to that, the liberalisation of the broadcasting sector in the 1980s led to a diversification of media supply in Germany. Political actors such as former Bavarian Prime Minister Edmund Stoiber had to adapt to this changing framework, if they wanted to ensure an accordingly apt public image of themselves in both interplay and interaction with the media.

Based on a major part of Stoiber’s political career (1978-2002), the PhD project analyses how a conservative politician took on that particular challenge of “image policy“. Therefore, it defines four main pillars of content: Election campaigns, the transformation of the world of media, policy consultation or campaign management and the struggle for sovereignty of interpretation over political terms. Theoretically and methodically, the project is oriented towards recent research approaches in the field of media history. Specifically, it develops and discusses the concept of a “media biography“ and uses it as its main analytical tool.


Maximilian Brockhaus
Das Schulfernsehen als Instrument nationaler und europäischer Geschichts- und Erinnerungspolitik

Abstract
Im Dissertationsprojekt beschäftige ich mich mit dem Schulfernsehen in der Republik Österreich, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zwischen 1960 und 1990. Dabei betrachte ich sowohl die institutionelle Entwicklung als auch geschichts- und erinnerungspolitische Funktionen bei der Legitimation politischer Ordnungsverhältnisse und der Konstruktion (trans-)nationaler Identitäten. Die europäische Zusammenarbeit im Schulfernsehen (West- und Osteuropa) wird in beiden Bereichen berücksichtigt. Das Ziel meiner Arbeit ist eine medienhistorische Studie, die neue Erkenntnisse über das Schulfernsehen auf nationaler und europäischer Ebene liefert und dessen Verwendung in der historisch-politischen Bildung in Staaten mit unterschiedlichen politischen Systemen und gemeinsamer (nationalsozialistischer) Vergangenheit analysiert.

In my dissertation project, I deal with school television in the Republic of Austria, the Federal Republic of Germany and the German Democratic Republic between 1960 and 1990. In doing so, I look at both the institutional development and politics of history and remembrance and the construction of (trans-)national identities. The European aspect is always taken into account in both areas. The aim of my work is a media-historical study that provides new insights into school television on a national and European level and analyses its use in historical-political education in states with different political order relations and a common (National Socialist) past.

Malte Fischer
The Voice of the People. Popular Expectations of Democracy in Postwar West Germany, 1950s–1980s

Abstract
Meine Dissertation untersucht die Erwartungen „gewöhnlicher“ Bürger*innen an die westdeutsche Nachkriegsdemokratie einerseits und ihre mediale und politische Repräsentation bzw. Konstruktion andererseits. Ich argumentiere, dass sich die Art und Weise, wie Bürger*innen sich selbst als demokratische Akteure wahrnahmen, wie sie über und mit der Politik sprachen und wie sie die ihnen zugewiesene Rolle als demokratischer Souverän bewerteten, sich zwischen den 1950er und 1970er Jahren maßgeblich gewandelt hat. Die Stimmen „gewöhnlicher“ Bürger*innen, so meine These, erfuhren in den langen 1960er Jahren eine beispiellose Aufwertung; Partizipation wurde zu einem zentralen Teil westdeutscher Demokratievorstellungen und Bürgernähe eine Voraussetzung legitimer politischer Repräsentation. Dieser Prozess fand zunehmend in den Rundfunkanstalten des Landes statt und wurde im Rahmen eines sich wandelnden journalistischen Selbstverständnisses als öffentliches Forum für Konflikte und kritisches Korrektiv vorangetrieben. Zur selben Zeit begannen Bürger*innen sich selbstbewusster und offener als wirkmächtige politische Stimmen in der öffentlichen Debatte zu positionieren.

My dissertation explores the place of “ordinary” citizens in postwar democracy, their perceptions and expectations of the political system, and their representation within it. It argues that the way citizens perceived themselves as democratic actors, the way they talked about and with politics and the evaluation of their role in democracy changed between the 1950s and 1970s in a manner that is both unprecedented and time specific: The voice of “ordinary” people, it hypothesizes, took a central place in postwar West Germany’s political culture from the late 1950s onwards. This valorization of vernacular voices was made possible by a new style of media reporting – not least in radio and television – that was carried out at a critical distance from the state, accompanied by the self-understanding as an institution of political control, and the development of discursive coverage formats based on the plurality and negotiation of opinions. At the same time, citizens began to position themselves more confidently and openly as relevant political voices in the public debate.

Karsten Köhler
Aktenzeichen XY…ungelöst (1967–1997). Repräsentation, Anschlusskommunikation und Rezeption medialer Verbrechensdramatisierungen

Abstract
Das Dissertationsprojekt erforscht die audiovisuelle Repräsentation von Sicherheit und Unsicherheit sowie die Reaktionen verschiedener Sphären der Öffentlichkeit anhand der Fernsehfahndungssendung „Aktenzeichen XY…ungelöst“ von 1967–1997. Massenmedien dramatisieren ausgewählte Themen und vermitteln ihrem Publikum diese dadurch mit besonderer Dringlichkeit. Sie haben damit entscheidende Bedeutung für die Wahrnehmung von Kriminalität und der Mittel ihrer Bekämpfung. Das spezielle Genre der Fahndungssendungen vereint dabei filmische Aufbereitungen von Straftaten im Stil eines Krimis mit dem Aufruf an die Zuschauer*innen, sich durch Hinweise an der Arbeit der Polizei zu beteiligen. „Aktenzeichen XY…ungelöst“ als wichtiger Vorreiter des Genres konstruierte im deutschsprachigen Raum (BRD, Schweiz und Österreich) ab 1967 ein Bild von Kriminalität als allgegenwärtige, wachsende und die Strafverfolgung zunehmend überfordernde Bedrohung. Gemäß diesem Bild mussten neue Maßnahmen – darunter der Einsatz des Fernsehens – ergriffen werden. In der intellektuellen Öffentlichkeit der teilnehmenden Länder war die Sendung von Beginn an hochumstritten, gleichzeitig war sie ein Publikumserfolg und konnte sich langfristig etablieren. Das Projekt untersucht daher anhand von Rund- und Hörfunksendungen, Printmedien, zeitgenössischer Publikumsforschung, Fachartikeln und Anrufprotokollen, wie verschiedene Gruppen von Rezipient*innen die Sendung und das von ihr vermittelte Kriminalitätsbild bewerteten und diskutierten.

The PhD project focuses on audiovisual representations of security and insecurity and the reactions of different spheres of audience by analysing the German crime-appeal show „Aktenzeichen XY…ungelöst“ between 1967 and 1997. Mass media dramatize selected themes to set agendas. Therefore, they are important for the perception of crime and law enforcement. The special genre of interactive reality crime programme – „Aktenzeichen XY“ is comparable to „Crimewatch UK” or „Americas Most Wanted“ – tries to animate its audience to help the police by combining reenactments of actual crimes with non-fictional elements. „Aktenzeichen XY…ungelöst“ constructed an image of criminality as omnipresent and growing problem, which threatened to overwhelm law enforcement agencies. According to this image, new measures – including the usage of television for prosecution – had to be taken. The popular success of the program was accompanied by a critical controversial discussion in the intellectual public. This project uses a variety of sources, including television programs, radio broadcasts, newspapers and other print media, contemporary public research, scientific studies, letters from viewers and call logs to show different perceptions of the show and its images of security, criminality and appropriate measures.

Rezensionen

Gabriele Balbi, Nelson Riberio, Valérie Schafer, Christian Schwarzenegger (eds.)
Digital Roots – Historicizing Media and Communication Concepts of the Digital Age

(Lina Rahm & Jörgen Rahm-Skågeby, Stockholm)

Mitteilungen aus dem Studienkreis

Kai Knörr
Erneut Online: Bericht vom Medienhistorischen Forum 2021

Kiron Patka & Kai Knörr
Ankündigung: Jahrestagung und Medienhistorisches Forum 2022