Einmal im Leben den Grimme-Preis entgegenzunehmen ist wohl der Traum aller Fernsehschaffenden in Deutschland: Er gilt als Auszeichnung für höchste Qualität. Die Teilnehmenden der Jahrestagung des Studienkreises Rundfunk und Geschichte reagierten entsprechend fasziniert, als sie selbst kurz die begehrte Trophäe in den Händen halten durften: Eine gelungene Überraschung der Grimme-Preis-Leiterin Lucia Eskes zum Abschluss der Konferenz am 27. und 28. Juni 2024 beim Grimme-Institut in Marl.
Im Kamingespräch mit Kai Knörr und Uwe Breitenborn hatte sie bereits am Vorabend davon berichtet, wie komplex die Aufgabe der Grimme-Gremien ist, die Preiswürdigkeit der Produktionen festzustellen. Es werde eine hohe Perspektivenvielfalt aus professionellen Kritikern und Publikumssicht hergestellt, sei es durch die Einbindung der „Marler Gruppe“ oder auch von Studierenden der Universität zu Köln, denen das Konzept des linearen Fernsehens zunehmend fremd werde. Gesprächspartner Friedrich Küppersbusch ergänzte aus seiner Sicht, in welcher Form die Auszeichnungen auf die Branche Einfluss nehmen: Die unabhängigen Jury-Urteile dienten in Zeiten abgespeckter Medienfeuilletons zur Orientierung jenseits von Quoten- und Reichweitenanalysen, doch manchmal sei das Idealbild der Grimme-Gremien schwierig zu deuten. Er hielt ein Plädoyer für einen gewissen Grundkanon handwerklich und journalistisch gelungener Produktionen, der für Fernseh- und Mediatheken-Produktionen gleichermaßen gelte. Besonders hochwertig produzierte Dokumentationen könnten ein großes Publikum finden und seien auch bei Streamingplattformen als repertoirefähig angesehen. Zudem gab es Gelegenheit, einiges über Friedrich Küpperbuschs Sicht auf seine eigene Mediengeschichte und -gegenwart (ZAK, probono, Küpperbusch TV u. a.) zu erfahren, die er mit der ihm eigenen Lässigkeit präsentierte.
Die Keynote von Jan-Hinrik Schmidt vom Hamburger Hans-Bredow-Institut bot eine direkte Antwort auf die provokante Frage des Tagungstitels: «Fernsehen» und Bildung – ein Missverständnis? Eine aktuelle Repräsentativbefragung im Auftrag des ZDF ergab: Das Verständnis, welche Kernelemente von Bildung wichtig sind, variiert in der Bevölkerung. Es lassen sich vier Anspruchsgruppen unterscheiden. Über alle Anspruchsgruppen hinweg ist die die Mehrheit der Bevölkerung (53 %) der Meinung, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk zur Bildung in Deutschland beiträgt. Auch formulierten die Nutzenden hohe Erwartungen an den Rundfunk: Dazu zählte die Vermittlung eines respektvollen Miteinanders, die Unterscheidung von verlässlichen und gefälschten Informationen, der Beitrag zur Demokratiebildung, sowie die Erinnerung an deutsche und europäische Geschichte.
Wie sich Erwartungen und Qualitätsmaßstäbe im Lauf der Mediengeschichte ändern, war das durchgängige Thema des Panels „Grimme in der Medienlandschaft“. Thomas Tekster stellte vor, wie das Grimme-Institut seine Akten systematisch erschließt und Dokumente der Institution und seines Gründers Bert Donnepp für Forschung zugänglich macht. Felix Dümcke vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen zählt zu den Nutzenden und gab Einblicke in seine laufende Forschung zur „Entpädagogisierung des Adolf-Grimme-Preises 1964 bis 1970“: Bereits in den Anfangsjahren hätten entscheidende Weichenstellungen stattgefunden, den Akzent von Volkserziehung zu einem umfassenden Qualitätsbegriff auszuweiten. Tanja Weber, Universität zu Köln, knüpfte an diese historische Betrachtung an und verlängerte ihre These bis in die Gegenwart: „Das gute Fernsehen gibt es nicht.“ Illustriert am Statut des Grimme-Instituts führte sie aus, dass es die eine, allgemeinverbindliche Operationalisierung von Qualität nicht geben könne, sondern es sich vielmehr um einen relationalen, dynamischen, historischen und diskursiven Prozess handle.
Den Auftakt zum Panel „Fernsehgeschichte unter der Lupe“ machten Sara Tazbir (RBB) und Christine Abt(SWR) mit der Vorstellung von ARD Retro: Im Rahmen einer groß angelegten Archivöffnung stünden mittlerweile über 20.000 Videos und 3.500 Audiodateien zum Abruf bereit, die Zeitgeschichte „im Kleinen“ erzählen. Im Zeichen des Public Value steht auch das anschließend vorgestellte Projekt „rufus“, das Patrizia Blume von der Universitätsbibliothek Leipzig präsentierte: Das Fernseh-Produktionsarchiv des ZDF wird über dieses Portal recherchierbar. Die fließenden Grenzen zwischen Information, Bildung und Unterhaltung in der Perspektive von Rezipierenden stellte Gerlinde Frey-Vor in das Zentrum ihres Vortrags auf Basis einer aktuellen Repräsentativbefragung sowie Ergebnissen der historischen Rezipientenforschung. Die Ergebnisse zeigten, dass bei der Nutzung von Bewegbild das Entspannungsbedürfnis und der Spaß als Motive sehr wichtig sind, gefolgt vom Wunsch nach aktueller und vertiefender Information. Stammpublikum öffentlich-rechtlicher Angebote stellte letztere zusammen mit Motiven der sozialen Einbindung mehr in den Vordergrund als andere Gruppen.
Die Geschichte des Bildungsfernsehens wurde in einem eigenen Panel vertieft. Kai Nowak von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg widmete sich der Modernisierung der Verkehrserziehung in Westdeutschland 1965 bis 1985, an der Fernsehsendungen wie der „siebte Sinn“ aber auch Schulfernsehsendungen und Shows einen entscheidenden Beitrag hatten. Thomas Wilke, PH Ludwigsburg, stellte eine überraschende Bandbreite der Darstellung vom HipHop im deutschen Fernsehen vor – von erklärenden Formaten der 1980er-Jahre mit starkem Einfluss auf Jugendliche auf beiden Seiten der Mauer bis zu aktuellen und preisgekrönten Musik- und Bildungsangeboten.
Im Fokus des letzten Panels stand die Beziehung von Bildungsformaten und Medienkritik. Christoph Classen analysierte die große Popularität von Neil Postmans Bestsellern „Das Verschwinden der Kindheit“ und „Wir amüsieren uns zu Tode“ in der Bundesrepublik der 1980er Jahre, deren Popularität in Deutschland größer als in den USA gewesen sei. Er erklärte dies damit, dass Postmans Kulturkritik sowohl zu verbreiteten Ängsten vor den „Neuen Medien“ gepasst habe als auch ideengeschichtlich auf fruchtbaren Boden gefallen sei. Uwe Breitenborn, Medienwerkstatt Potsdam, sensibilisierte im Anschluss für das Bildungspotenzial von Streamingangeboten: Mit Blick auf die zahlreichen Bildungseffekte fiktionaler Serienhits wie „Das Damengambit“ erschien der Titel des Vortrags „Telekolleg Netflix?“ nicht abwegig. Yulia Yurtaeva-Martens, Filmuniversität Babelsberg, gab einen Überblick über Virtual-Reality- und KI-basierte Bildungsangebote zum Thema Holocaust und NS-Zeitzeugenschaft und diskutierte mit dem Publikum die damit verbundenen Potenziale und Herausforderungen.
Die Qualität und Wandlung von Bildungsmedien sorgt für Gesprächsstoff über Fernsehformate hinaus, wie uns auch der Direktor des Grimme-Instituts Peter Wenzel erläuterte. Mit ihm freuten sich die Teilnehmenden, dass es gelungen ist, den Grimme-Online-Award 2024 zu retten. Eine Nachricht, die zu den Ergebnissen der Tagung ausgezeichnet passt.
Tagungsbericht: Christoph Rosenthal
Fotos: Rosenthal/Hennings/Breitenborn
Comments are closed.