Fachgruppe Speicherkulturen

Uwe Breitenborn, Yulia Yurtaeva

Speicherkulturen
Archive. Netze. Yottabytes

Unsere Gegenwart wird als Epoche der veränderten und vor allem erleichterten Zugangsmodi zu Wissen und Kultur in die Geschichte eingehen. Diese Errungenschaften des Geistes sind heute in einem nie gekannten Ausmaß verfügbar – und diese Verfügbarkeit verändert unsere Gesellschaft. Somit bringt das Digitale Zeitalter, Grundvoraussetzung wie Katalysator dieser Entwicklung, viele neue Fragen auf die Tagesordnung.

Ob klassische Archive, Netzkultur oder Speichermedien – die heutige Gesellschaft kennt viele Formen des Erinnerns, Bewahrens und Bewusstwerdens. Diese Vorgänge werden stets neuen Transformationen ausgesetzt, zu denen auch das Vergehen, Verschwinden, Vergessen gehört. Viele dieser Prozesse spielen sich im vormedialen Raum ab, einer von Milliarden Usern bewohnten digitalen Zone, in der ein wildes Zeigen, Tauschen, Liken, Recherchieren, Katalogisieren, Speichern und Archivieren stattfindet. Galten bis vor nicht allzu vielen Jahren klassische Archive als die hehren Orte gesicherten und bewahrten Wissens, sind durch die Digitalisierung und Vernetzung mittlerweile neue Orte und Pfade hinzugekommen. Ob Wikipedia, Social Networks oder Unmengen an Speichermedien – Wissen und Kultur vermehren sich wild und exponentiell. Von Kilobytes zu Yottabytes – auch die technischen Speicherkapazitäten erreichen neue Dimensionen. Hierdurch entstehen neue, netzbasierte Speicherkulturen, die den bisherigen Katalog erweitern, zum Teil ersetzen, in Konkurrenz zu diesem treten, in jedem Fall aber ergänzen. Der Umgang mit diesen digitalen Speicherkulturen stellt eine Herausforderung für Wissenschaft und Praxis dar.

Dabei bleiben diese Entwicklungen in Wissenschaft und Kultur durchaus nicht unreflektiert. Wandlungen der Erinnerungskulturen und des kollektiven Gedächtnisses, Entsammlungsstrategien (durch Nicht-Digitalisierung), Medienarchäologien oder semantischer Overkill sind einige Schlagworte dieser Diskurse. Doch noch immer bleiben zahlreiche Fragen virulent: Welchen Stellenwert haben neue, netzbasierte Speicherkulturen? Welche progressiven oder regressiven Effekte haben diese Kulturen auf unsere Gesellschaft? Was sind erfolgreiche Strategien zur Orientierung im Informationsüberfluss und den sich immer weiter entwickelnden Speichermodi? Welche Auswirkungen haben diese Prozesse auf unsere Erinnerungskultur? Der von diesen Fragen begleitete Transformationsprozess unserer Wissenskultur ist noch längst nicht abgeschlossen.

Die Fachgruppe „Speicherkulturen“ möchte diese Entwicklungen wissenschaftlich begleiten, diskutieren und theoretisch-methodische Zugänge einbringen. Es geht dabei um eine Bündelung und Vernetzung wissenschaftlicher und praktischer Fachkompetenzen, die sich im Themenspektrum von Archivistik bis Medien- und Kulturwissenschaft bewegen. Eine historische Fokussierung ist hierbei ebenso gefragt wie der geschärfte Blick auf aktuelle Phänomene. In Form von Tagungen, Workshops und Publikationen im Umfeld des Studienkreises soll der Thematik ausgiebig nachgegangen werden.

Klassische Archive

Welche Funktionen haben klassische Archive heute? Welche fallen weg und welche kommen neu hinzu? Wie verändert sich der Begriff und das Selbstverständnis des klassischen Archivs angesichts der hier diskutierten Entwicklungen? Welche inhaltlich-technologischen Lösungen finden die Archive und deren NutzerInnen für die Herausforderungen der digitalen Welt? Wer sind die Schwellenhüter in den Archiven, und sind deren Kriterien noch zeitgemäß und funktional? Wie kann die Zugänglichkeit zu Archivmaterialien für WissenschaftlerInnen und andere Nutzergruppen erleichtert werden?

Das klassische Archiv bleibt trotz der Materialschwemme im Netz von hoher Bedeutung, denn das systematische, ordnende Handeln der Archivare und Archivarinnen steuert wesentliche Bewertungskriterien bei, die für die Wahrnehmungs- und Erinnerungskultur unentbehrlich sind – und die im Netz (noch?) keine vergleichbare Entsprechung finden.

Dennoch sind andere, zum Beispiel performative, prozesshafte und akteurszentriert angelegte Zugänge nicht weniger bedeutsam. So konkurrieren heute unterschiedlichste Speicherkulturen mit- und nebeneinander. Bis dato zweifellos legitimierte, institutionalisierte Pfründe geraten ins Wanken, neue Spieler treten auf den Plan.

Medienarchive

Betrachtet man aktuelle Call for Papers mit einem mediengeschichtlichen Zuschnitt, dann sticht die Präsenz des Themas „Medienarchive“ immer wieder hervor. Dabei werden unter diesem Begriff offensichtlich ganz unterschiedliche Dinge verstanden. Was also ist ein Medienarchiv? Ein tatsächliches und/oder virtuelles Magazin, in dem spezifische Medientypen aufbewahrt werden, also visuelle und auditive Datenträger, Texte, Bilder? Oder kann man zur Speicherung von Daten geeignete Medien zu Medienarchiven zählen? Spielt es eine Rolle, zu welchem wissenschaftlichen, kommerziellen oder dokumentarischen Zweck diese Archive angelegt werden? Wie weit darf man sich von der „klassischen“ Definition des Archivs entfernen und inwieweit muss dieser Begriff im Zuge der Digitalisierung erweitert werden? Die bisher gefundenen Antworten auf diese Fragen müssen auf ihre Gültigkeit überprüft werden. Eine Abwägung ist hier erforderlich zwischen Aspekten, die richtiger Weise unter dem Begriff „Medienarchiv“ subsumiert werden können und Aspekten, die diese begriffliche Schärfung eher behindern, weil sie praktikable Dimensionen sprengen oder Kriterien verwässern.

Hierbei kommt dem Internet und seiner Funktion als (potentielles) Medienarchiv eine besondere Rolle zu. Dabei wäre zunächst zu klären, ob das Internet als metatextuelles Speichermedium schon als Medienarchiv gelten kann oder ob nur seine partielle Beanspruchung in Form von Plattformen einem Medienarchiv entspricht, weil diese beispielsweise audiovisuelles Material enthalten, aufbewahren und somit NutzerInnen wie ForscherInnen zur Verfügung stellen? Wo genau liegt die Grenze zwischen einem Online- bzw. Web-Archiv und dem Archiv Internet? Versteht man unter Medienarchiven Orte, an denen das Wechselverhältnis von Medialität und Historizität durch die Materialität der Archivalien problematisiert wird (vgl. CfP zur RuG-Jahrestagung 2015)? Oder handelt es sich beim Internet um einen virtuellen Raum, welchem die Medialität schon implizit ist, in dem die Materialität der Datenträger einem „neuen Gefühl“ und vor allem einer gesteigerten Ablösung vom Objektcharakter („Virtuosität der Abstraktion!“) unterzogen ist und die Historizität in Bezug auf die Art der Quelle neu diskutiert werden muss (vgl. Assmann 2009:174f)?

Netzbasierte Forschungsräume

Der Umgang mit dem Datenbezug und auch die Anerkennung der netzbasierten Materialien durch die Welt der Wissenschaft ist derzeit noch nicht durchdekliniert und unterliegt damit noch keinen standardisierten, objektiv anwendbaren Regeln. So existieren Internetportale, die z.B. Zeitzeugeninterviews produzieren und zur Verfügung stellen, einen offiziellen Träger haben und unhinterfragt die Unterstützung von HistorikerInnen erhalten. Andere Internetplattformen archivarischen Charakters, die diese “wissenschaftliche Adelung” noch nicht erhielten, stellen hingegen bezüglich des Datenbezugs und anschließender Zitation ein Risiko dar. Oftmals sind die „DatenproduzentInnen“ nicht kontaktierbar und der heuristische Wert für HistorikerInnen bleibt mangels Meta-Daten beschränkt – ein wiederkehrendes Problem von „digital born“-Quellen (Fickers 2014:26), welches dazu führt, dass derartige Portale im Forschungskontext zwar regelmäßig genutzt werden, aber im Quellenverzeichnis nicht auftauchen. Weiterhin entsprechen private Internetportale oft nicht den bisherigen Bewertungskriterien, wie sie z.B. Ballhausen 2005 aufgestellt hat (Ballhausen 2005:114-116). Meist gilt aber auch einfach noch die pauschale Vorverurteilung, derlei Quellen seien im wissenschaftlichen Sinne schlichtweg unseriös. Mittlerweile spricht jedoch viel für die Tendenz, solche Internetplattformen im wissenschaftlichen Kontext zu berücksichtigen. Denn einerseits stehen sie selbst als neue Forschungsräume für die Wissenschaft zur Verfügung (Stichwort: public history). Andererseits werden hier aus dem Internet genuine Quellen geboten, die teilweise exklusiv für den virtuellen Raum geschaffen werden (Lange 2014:18f). Sie sind daher nicht einfach als ein Apendix des Analogen zu bewerten, sondern stellen einen eigenständigen Wert dar. Daher ist es nötig, die Parameter und Kriterien der Wissenschaftlichkeit hinsichtlich der Quellenvielfalt zu überprüfen und ggf. neu zu definieren, ohne diese zu relativieren.

Literatur (Auswahl)

Assmann, Aleida (2015): Im Dickicht der Zeichen. Berlin: Suhrkamp.

Assmann, Aleida (2013): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur: Eine Intervention. München: C.H.Beck.

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Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H.Beck.

Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H.Beck.

Ballhausen, Thomas (2015): Signaturen der Erinnerung. Über die Arbeit im Archiv. Wien: Edition Atelier.

Ballhausen, Thomas (2005): Kontext und Prozess. Eine Einführung in die medienübergreifende Quellenkunde. Wien: Löcker Verlag.

Ballhausen, Thomas; Strunz, Valerie; Krenn, Günter (Hg.) (2014): geschichte erzählen. Medienarchive zwischen Historiografie und Fiktion. Wien: LIT Verlag.

Csáky, Moritz; Stachel, Peter (Hg.) (2000/2001): Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken. Museen. Archive. Teil I: Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit. Kompensation von Geschichtsverlust. Teil II: Die Erfindung des Ursprungs. Die Systematisierung der Zeit. Wien: Passagen Verlag.

Ebeling, Knut (2013): Wilde Archäologien I. Theorien der materiellen Kultur von Kant bis Kittler. Berlin: Kulturverlag Kadmos.

Ebeling, Knut (2009) : Archivologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos.

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Erll, Astrid; Wodianka, Stephanie (Hg.) (2008): Film und kulturelle Erinnerung: Plurimediale Konstellationen. Berlin: Walter de Gruyter.

Ernst, Wolfgang (2013): Signale aus der Vergangenheit. Eine kleine Geschichtskritik. München: Wilhelm Fink.

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Schenk, Dietmar (2014): Kleine Theorie des Archivs. Stuttgart: Steiner.

Verein für Medieninformation und Mediendokumentation (Hg.) (2010): Fokus Medienarchiv: Reden, Realitäten, Visionen 1999 bis 2009. Beiträge zu Mediendokumentation. Bd.8. Berlin: LIT Verlag.

Archiv-Links (eine kleine Auswahl)
https://www.archivportal-d.de (D)
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de (D)
http://www.dra.de (D)
http://www.bundesarchiv.de (D)
http://www.archivesonline.org (Schweiz)
https://archive.org/index.php (USA)

Fazit der Gründungsdiskussion