Musikfilme im dokumentarischen Format

Zur Geschichte und Theorie eines Subgenres des Dokumentarfilms

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Musikfilme erfreuen sich großer Beliebtheit. Unter diesem Genre werden sämtliche Produktionen rund um die Musik gefasst, vom Biopic über den ethnographischen Szenefilm, die Konzertdokumentation bis hin zum Musikvideo. Musikfilme gehören seit den 1910er Jahren zum festen Repertoire von Filmproduktionen, sie erfüllen im Bereich von Jugend- und Musikkulturen, aber auch in anderen Bereichen musikalischer Darbietungen, wichtige sozialkommunikative Integrations- und Verbreitungsfunktionen. Zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Formaten wird in den bisher ohnehin nur spärlichen Untersuchungen zu diesem Thema kaum unterschieden. Der Artikel unternimmt nun den Versuch, Musikdokumentarfilme als eigenes Genre näher in den Blick zu bekommen. Ausgehend von der Beobachtung, dass heutzutage die Herstellung und Verbreitung musikdokumentarischer Aufnahmen vor dem Hintergrund günstiger digitaler  Produktionstechnologien ein weit verbreitetes Phänomen darstellt, überdies der Markt für musikdokumentarische Filmformate boomt, grenzen die Autoren den fiktionalen Musikfilm vom Musikdokumentarfilm ab. Dafür beziehen sie sich auf die bekannten Differenzierungen innerhalb der Dokumentarfilmtheorie. Anhand empirischer Beispiele schlagen die Autoren idealtypische thematische Zuordnungen vor, mit denen der breite Bereich des Musikdokumentarfilms in Konzertfilme, Tour-Filme, Produktionsprozess- und Studiofilme, biographische Filme, Musikkultur-Filme, ethnographische Filme und Fan-Filme unterschieden werden kann.

Einleitung

Ein Blick in die Auslagen großer Elektronikfachgeschäfte zeigt, dass der Markt für Musikfilme und insbesondere für Musikdokumentarfilme als ein spezielles Genre des Musikfilms exponentiell wächst.[1] Mittlerweile existieren in elektronischen ‚Megastores‘ ganze Abteilungen, die riesige Auslagen allein für dieses Filmgenre bereit halten. Darüber hinaus existieren Produktionsfirmen und Vertriebe, die sich vor allem auf Musikfilme spezialisiert haben (so das amerikanische Independent-Label Plexifilm.Digital.Music.Film).[2] Dabei haben Musikdokumentarfilme, die aus dem Bereich Rock/Pop kommen, einen großen Anteil an diesem Zweig, jedoch finden sich auch im Bereich der E-Kultur immer mehr Opern-/Ballett- oder andere klassische Konzertfilme. Die Übertragung von Live-Konzerten der E- und U-Kultur im Fernsehen ist ein fester Bestandteil verschiedener TV-Programme. Auch Filmübertragungen großer Opernveranstaltungen in regionalen Kinos rund um den Globus sind heutzutage keine Seltenheit.

Beinahe jede/r Sänger/in, Band oder Musikszene besitzt mittlerweile einen eigenen Musikdokumentarfilm, mit dem der Rezipient Informationen und Aufklärung über Musik, persönliche Einstellungen, Hintergründe o. ä. erhält. Die Möglichkeit, sich selbst ‚ins Bild zu setzen‘, ist sicherlich auch der Verbilligung technischen Equipments im Zeitalter digitaler Filmaufnahmen geschuldet. Von der Handycam bis zur handlichen Videokamera reichen die technischen Möglichkeiten zur relativ einfachen Herstellung musikdokumentarischer Bilder. Damit reichen die Produktionen von professionellen und aufwendigen Arbeiten für das kommerzielle Kino bis hin zu kleinen und nur für DVD bestimmte Filmaufnahmen. Musikdokumentarfilme werden somit nicht zwangsläufig an ein größeres Filmpublikum adressiert, sondern finden sich oftmals auch als Zusatz-DVD in Luxusausgaben von CD-Veröffentlichungen für einen überschaubaren Fanzirkel. Im Zeitalter der Handycam gelingt es auch kleineren und unbekannteren Künstlern relativ problemlos, kostengünstige Filmaufnahmen von und über sich herzustellen. Ebenso gibt es auf  Seiten der Fans unzählige, mit der Handycam aufgenommene Konzertfragmente, die auf Plattformen wie YouTube zu sehen sind. Hier hat sich innerhalb kürzester Zeit ein unüberschaubares Archiv musikdokumentarischer Aufnahmen entwickelt. Größere und bekanntere Sänger/innen oder Bands verfügen mittlerweile nicht nur eine Musikdokumentation, sondern haben eine Vielzahl von Konzertmittschnitten, biographischen oder thematisch anders gelagerten Filmen in ihren Verkaufsfächern stehen oder auf ihren Online-Seiten verfügbar. Musikfilme, Filme über Musik oder Musikfilme mit überwiegend dokumentarischen Filmbildern kommen so in unzähligen Varianten vor.

Musikfilme, zu denen Musikdokumentarfilme gerechnet werden können, sind im Allgemeinen ein Filmgenre, das aufgrund seiner unterschiedlichen Formen und Inhalte schwer zu fassen ist (vgl. Maas; Schudack 2008, S. 12). Obwohl auf auditiver Ebene die Klangästhetik der Musik als gegenstandsloses, sinnliches Erfahrungsmedium im weitesten Sinne den zentralen Gegenstand von Musikfilmen bildet und damit sämtliche Darstellungsformen inhaltlich wie formalästhetisch verbindet, kann diese auf vielfältige Weise präsentiert werden. Visualisiertes Musiktheater (Opernfilme), Filmmusicals, Konzertfilme, Tourneefilme, Bandfilme, Doku-Soaps und Castingshows, Rockfilme, Mockumentarys, biographische Filme, Musiker in Spiel- und Dokumentarfilmen, Videoclips verweisen nur auf die wichtigsten Inszenierungen von Musik mit dokumentarischem Charakter im Film. Damit reicht die thematische Spannbreite von dokumentarischen Live-Aufnahmen, ethnographischen und historiographischen Untersuchungen von Jugend- und Musikkulturen über künstlerisch-ästhetisch verdichtete Videos bis hin zu fiktiven Erzählungen, in denen Musik einen zentralen Stellenwert einnimmt. Oftmals treffen fiktionale wie dokumentarische Filmbilder in ein und demselben Artefakt aufeinander. Wie also können Musikdokumentarfilme von Musikfilmen sinnvoll unterschieden und weiter differenziert werden? Welche Unterschiede lassen sich im Bereich des Musikdokumentarfilms innerhalb verschiedener Sub-Genres ausmachen? Was ist überhaupt ein musikdokumentarisches Filmbild, was zeichnet es aus? Und schließlich: Welche Rolle spielt Musik a) als Gegenstand der Darstellung und b) als assoziativer Soundtrack in Musikdokumentarfilmen?

Eine erste Differenzierung verschiedener Darstellungsformen von Musik im Film kann entlang der Gattungsgrenzen Spiel- und Dokumentarfilm geleistet werden (vgl. Custodis 2010, S. 67-82). Dieser Auffassung wollen die Autoren folgen. Interessanterweise haben sich viele namhafte Spielfilm- oder Dokumentarfilmregisseure wie Martin Scorsese, Clint Eastwood, Jim Jarmusch, Wim Wenders, Klaus Wildenhahn, Richard Leacock u.a. innerhalb ihrer Produzentenkarrieren zwischenzeitlich dem Genre des Musik(dokumentar)films gewidmet. Offenbar übt dies einen besonderen Reiz aus. Während der Spielfilm vor allem fiktiv arbeitet und narrative Muster verwendet, Schauspieler einsetzt und mit den Fakten frei umgeht, ist der Dokumentarfilm an einer nicht- bzw. vorfilmisch zu beobachtenden oder zu rekonstruierenden Realität orientiert, die die Inhalte des Films referentiell außerhalb desselben verortet. Auf der anderen Seite sind es die Sehgewohnheiten und das Vorwissen der ZuschauerInnen, die Musikdokumentarfilme erst als solche signifizieren, was durch die dokumentarfilmischen Paratexte wie Titel, Genrebezeichnung, Ankündigungen und Besprechungen kommunikativ zusätzlich unterstützt wird. Musikdokumentarfilme eröffnen einen anderen Zugang zum Gegenstand Musik als fiktive Spielfilme: „Dokumentationen bieten sich als Format daher in besonderer Weise an, den vielen verschiedenen Funktionen und Aggregatzuständen von Musik ein Gesicht zu geben, die Menschen dahinter zu zeigen und die Geschichten vorzustellen, die sich in diesen Zusammenhängen verbergen“ (vgl. ebd., S. 68). Die sozialkommunikativen Funktionen beider Filmgattungen unterscheiden sich grundsätzlich vor allem hinsichtlich ihres Mitteilungs- und Informationscharakters: Der Spielfilm wird dabei traditionell eher der Unterhaltung zugeordnet, der Dokumentarfilm dagegen verspricht sachliche Aufklärung und Information: So stehen sich offenbar fantasievolle Imagination und nüchterne Betrachtung diametral gegenüber. Allerdings werden gerade bei einem Gegenstand wie Musik diese Grenzen durchbrochen, das Fiktionale wird dokumentarisch wie auch das Dokumentarische fiktional wird. Beide Filmgattungen sprechen den Zuschauer zwar unterschiedlich an und verlangen vom Rezipienten differenzierte Wahrnehmungshaltungen, jedoch ist die innerfilmische Struktur oftmals von Uneindeutigkeiten geprägt. Die Grenzen zwischen Musikfilm und Musikdokumentarfilm sind fließend.

Inwieweit eine Differenzierung in dokumentarische und fiktive Darstellungsformen des Musikfilms dennoch sinnvoll ist, soll in den nächsten Abschnitten diskutiert und anhand von gattungsspezifischen Differenzierungen musikdokumentarfilmischer Formate aufgezeigt werden. Auch wenn im Zeichen hybrider Formate Mischformen eher Regel als Ausnahme sind, auch wenn möglicherweise filmhistorisch die Grenzen niemals klar zu ziehen waren, gibt es doch einige Differenzen, die es genauer zu betrachten gilt. Ausgehend von der Beobachtung, dass auf Authentizität und Hintergrundinformationen aufgebaute Musikdokumentationen in den letzten Jahren eine bevorzugte und weit verbreitete Form der musikkulturellen Kommunikation geworden sind, möchten wir vor diesem Hintergrund den Begriff Musikdokumentarfilm näher beleuchten und fundieren.

 1. Musikfilm und Musik-
dokumentarfilm: Theoretische Abgrenzungsversuche

Spricht man von Musikfilmen als Oberbegriff, so umfasst dieser sämtliche Filmformen, in denen Musik eine zentrale Rolle spielt. Musikfilme kommen in fiktionalen und dokumentarischen Formaten vor, sie reichen von biographischen Filmen über Opern-, Musical- und Rockfilme bis hin zu Videoclips (vgl. Maas, Schudack 2008). Ist diese breit gefasste Definition schon unscharf genug, verwirren sich die musikfilmischen Genregrenzen noch weiter, bezieht man die ersten jugendlichen Rock‘n’Roll-Filme in die Bezeichnung Musikfilm mit ein. Jugend- als vorwiegend auf Musik beruhende Kulturen rücken dann in einen erweiterten medialen Zusammenhang. So wären frühe sozialkritische Jugendfilme wie Der Wilde (1953) mit Marlon Brando, Die Saat der Gewalt (1955) mit dem Bill-Haley-Hit Rock around the clock (1954) sowie …denn sie wissen nicht, was sie tun (1955) mit James Dean ebenfalls diesem Genre zuzurechnen, ohne dass Musik hier eine hervorgehobene Rolle spielte. Diese und andere frühe Musikfilme, weitgehend ohne Musik auskommend, zeigten eine rebellische Jugend, deren Protagonisten schnell in Habitus und Lebensstil einen globalen Vorbildcharakter annahmen (vgl. Struck 1985, S. 9ff.). In den 1950er Jahren entstanden so eine Reihe von Jugendfilmen, die weniger über die Musik, als vielmehr über ein gemeinsam geteiltes Lebensgefühl zu großen Erfolgen wurden. Frühe Musikfilme dieser Art stehen damit in einem engen Zusammenhang mit der Herausbildung von Jugendkulturen und trugen zu deren weltweiten Popularität bei. Dies hat sich bis heute nicht geändert. Musik im Film spielt dabei nur eine periphere Rolle, ist nicht zentraler Gegenstand des Films, sondern Ausdruck eines Lebensgefühls.

Aber auch andere Filme ohne die Musik als zentralen Gegenstand werden unter dem Begriff Musikfilm diskutiert. So wird Der Blaue Engel (1930) mit Marlene Dietrich sowohl dem Genre Literaturverfilmung wie auch dem Musikfilm zugeordnet (vgl. Maas, Schudack 2008, S. 15f.). Dietrich singt in dieser Verfilmung des Heinrich Mann Romans Professor Unrat gerade einmal fünf Lieder, mit denen sie die Männer betört. Es bleibt eine offene Frage, ob schon allein deshalb dieser Film als Musikfilm zu bezeichnen wäre, oder aber ob man über die Bedeutung der Musik als dramaturgisches Element zu diskutieren hätte (vgl. ebd.). Musik kann somit in verschiedener Weise thematisch werden: als Filmmusik oder aber als thematischer Gegenstand.

Eine befriedigende Definition des Musikfilms allein über seinen Gegenstand Musik scheint angesichts dieser thematischen Vielfalt und Breite kaum erreichbar zu sein. Musik kann, muss aber nicht im Mittelpunkt des Musikfilms stehen und verdeutlicht so seine unscharfe und breite Verwendungsweise, überdies seine frühe Assoziationen mit Jugendkulturen. Eine andere Möglichkeit, Musikfilme weiter sinnvoll zu systematisieren, legt die gattungsspezifische Differenzierung zwischen fiktiven und dokumentarischen Filmformaten nahe. Für eine derartige Unterscheidung sprechen die unterschiedlichen Bedingungen hinsichtlich der Produktion, dem Film als Filmprodukt selbst und der Rezeption beider Filmgattungen. Musikdokumentarfilme haben anders als in Musikfilmen Musik, Musiker, Bands, Konzerte oder ganze Musikkulturen zum Gegenstand. Diese Sujets sind auch vom Zuschauer als „real existierend“ zu erkennen, was für den Musikfilm nur indirekt gilt. Allerdings ist auch bei dieser Differenzierung zu bedenken, dass die Grenzen zwischen dokumentarischen und fiktiven Filmbildern fließend sind und in einem einzigen Film nicht selten beide Formen vorkommen, gerade dann, wenn Musikdokumentarfilme mit ästhetischen Gestaltungs- und Inszenierungsstrategien arbeiten, um ein Sinnbild für den Gegenstand Musik zu schaffen. Um Musikdokumentarfilme als eigenes Genre des Musikfilms idealtypisch gegenüber diesem abgrenzen zu können, muss filmtheoretisch weiter ausgeholt werden und auf die Unterschiede zwischen Spiel- und Dokumentarfilm näher eingegangen werden. Dabei sollen nicht nur gattungsspezifische Unterschiede herausgearbeitet werden, sondern Musik im dokumentarischen Film als dramaturgische Form der Darstellung betrachtet werden.

Nach Hickethier wird eine Darstellung zur Dokumentation, sobald sie ein „direktes Referenzverhältnis zur vormedialen Wirklichkeit“ behauptet, und dies vom Zuschauer im Prozess der Rezeption so auch akzeptiert wird (vgl. Hickethier 2007, S. 181). Demgegenüber besteht im fiktiven Film kein zwingendes Referenzverhältnis zur Realität, die Geschichte ist in der Regel frei erfunden (vgl. ebd.). Der Dokumentarfilm repräsentiert eine vorfilmische Realität, während der fiktive Spielfilm diese lediglich präsentiert – als etwas frei Erfundenes, jedoch im Prozess der Produktion vor der Kamera Stattgefundenes. Der Dokumentarfilm ist anders als der fiktive Spielfilm prinzipiell „wahrheitsfähig“ (vgl. Arriens 1999, S. 43f.). Zu unterscheiden ist dabei zwischen fiktiv und fiktional: Bei dem Begriff Fiktivität handelt es sich um frei erfundene Sinngebilde. Es sind damit bestimmte Existenzweisen von Gegenständen, Orten und Personen gemeint, die real nicht existieren; als Beispiel hierfür wären Sherlock Holmes, Don Quichotte oder das Land der Hobbits zu nennen. Im Zusammenhang des – mit dem Genre spielenden – Musikdokumentarfilms („mockumentary“) wäre hier die nur für den Film entstandene Heavy Metal-Band Spinal Tap zu nennen (This is Spinal Tap (1984)). Jedoch kommen diese Gegenstände, Orte oder Personen in der Realität als Fiktionen vor – und werden dadurch zu realen Gegenständen der gesellschaftlichen Kommunikation. Das Fiktionale hebt dagegen auf die gestalterischen Merkmale – die Darstellungsweise – ab; das auf diese oder jene Weise Dargestellte existiert real nicht, es ist aber auch nicht schlichtweg falsch (vgl. Rühling 2008, S. 29ff.). Das Fiktionale als gestaltetes Ergebnis einer bestimmten Darstellungsweise ist so in seiner Art der Darstellung nicht existent, es kann jedoch durchaus reale Bezugskontexte aufweisen. So weisen etwa musikfilmische Biopics wie Walk the Line (2005) über Johnny Cash oder I’m Not There (2007) über Bob Dylan (in dem Dylan durch fünf verschiedene Darsteller/Innen verkörpert wird) reale lebensgeschichtliche Bezugskontexte auf, jedoch ist die dramaturgische Umsetzung und Inszenierung des Stoffes fiktional und hat sich nicht, wie der Dokumentarfilm, mit den Widerständen Darstellungsproblemen und Zugangsschwierigkeiten außerfilmischer Wirklichkeiten zu beschäftigen. Bezogen auf den Dokumentarfilm bedeutet diese Differenzierung: Sofern sich dieser als kunstlose oder rein beobachtete Wiedergabe von Realität versteht, kommen Fiktionalisierungen nicht vor bzw. sind per se ausgeschlossen; versteht sich aber der Dokumentarfilm als gestaltetes Produkt, so kann das Fiktionale durchaus Bestandteil der dokumentarischen Darstellungsweise sein (vgl. Arriens 1999, S. 37ff.). Im Kontext musikdokumentarischer Filme kommen beide Möglichkeiten vor: Als bloße ethnographische Beobachtungsfilme mit wenig gestalterischen Eingriffen und mit möglichst langen Filmsequenzen, wie etwa in Thrash in Altenessen (1989), ein Musikdokumentarfilm über die Essener Thrash Metal Band Kreator von Thomas Schadt oder aber 196 BPM (2003), ein Beobachtungsfilm über die Loveparade 2002 von Romuald Karmakar, der bei einer Länge von 60 Minuten mit nicht viel mehr als drei Schnitten auskommt; als inszenierte, visuell-rekonstruktiv arbeitende, komplex montierte Gestaltung einer musikhistorischen Aufarbeitung von Bandgeschichten oder Musikszenen, wie etwa in Joy Division (2007) von Grant Gee.

Die Übergänge von reinen Beobachtungsfilmen zu gestalteten Dokumentarfilmen sind fließend. So ist Slide Guitar Ride (2005) von Bernd Schoch ohne Zweifel ein Musikdokumentarfilm über die schillernde Ein-Mann-Band Bob Log III aus Arizona; obwohl dieser Film weitestgehend im Direct Cinema-Stil beobachtend arbeitet, werden einzelne Szenen, die so geschehen sind, über die jedoch kein Filmmaterial vorlag, durch Knetanimationen rekonstruiert. Beide Darstellungsformen sind also bloße Idealtypen und kommen in der Filmpraxis als reine Formen praktisch nicht vor, und doch nehmen wir als Zuschauer unterschiedliche Rezeptionshaltungen ein. Die intradiegetische, assoziative oder kontrapunktische Montage von Bild und Musik, mal sparsam dezent, mal exzessiv beschleunigt, ist immer eine Form der innerfilmischen Gestaltung. Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal von Dokumentarfilmen gegenüber Spielfilmen ist der Verzicht auf SchauspielerInnen: Die Protagonisten des Dokumentarfilms sind reale Personen, wohingegen der Spielfilm in der Regel auf Schauspieler und eine inszenierte Story setzt. Insofern wäre der biographische Film Control (2007) von Anton Corbijn über die Gruppe Joy Division, insbesondere über das Schicksal ihres Sängers Ian Curtis, oder die genannten Walk the Line und I‘m Not There keine Dokumentarfilme, da sie mit Schauspielern arbeiten und einen narrativen Plot aufweisen – wenn dieser sich auch an den realen Begebenheiten orientiert.[3] So sucht oder erkennt zwar der Zuschauer in den Schauspielern eine gewisse Ähnlichkeit in Aussehen und Habitus, er identifiziert bestimmte biographische und musikhistorische Kontexte, jedoch bleibt die Differenz durch das nachahmende Spiel des Schauspielers zur realen Person gewahrt. Das mimetische ‚Als-Ob‘ erfährt seinen Höhepunkt, sobald das Spiel des Schauspielers an dessen eigene reale Identität rückangebunden wird, etwa: Das Schauspielerin X oder Schauspieler Y diese oder jenen Musiker/In ‚authentisch‘ verkörpere. Einen völlig anderen auratischen Eindruck erzeugt dagegen das ‚Original‘ als Identifikationsobjekt im Sinne eines ‚Das ist er/sie‘.

Für Eva Hohenberger entsteht im Dokumentarfilm eine referentielle Vermittlungsproblematik von Realität, die sie idealtypisch in fünf Ebenen unterteilt (vgl. Hohenberger 1988, S. 28ff.). Die „nichtfilmische Realität“ ist die Realität sui generis. Sie ist prinzipiell unendlich und nur über allgemeine Erkenntnistheorien systematisierbar. Die nichtfilmische Realität wird aber begrenzt durch normative Einschränkungen des Zeigbaren und Nichtzeigbaren zu einem gegebenen Zeitpunkt. Die „vorfilmische Realität“ ist die Realität vor der Kamera zum Zeitpunkt der Aufnahme (diese ist im Film selbst sichtbar oder wird über Kommentare und das Making-Of vermittelt). Sie gibt Auskunft über das Verhältnis zur nichtfilmischen Realität und ist das Ergebnis eines selektiven Auswahlprozesses eines Autors. Die „Realität des Films“ bezieht sich auf das Umfeld der dokumentarfilmischen Produktion. Dazu gehören die Organisation, die Finanzierung, Absichten und Arbeitsweise, Technik, Schnitt, Verleih, Werbung u.v.m. Sie bildet somit den Vollzugsrahmen eines Dokumentarfilmprojekts. Die „filmische Realität“ ist der Film als fertig gestelltes Produkt, wie er einem späteren Publikum vorgeführt wird. Sie stellt eine eigene und autonome Realität dar, die für den Zuschauer nicht hintergehbar ist. Die nichtfilmische, vorfilmische und die Realität des Films unterscheiden sich deutlich von ihr. Der Dokumentarfilm als fertig gestelltes Produkt führt im weiteren Verlauf ein Eigenleben, das sich zunehmend von seinen Produktionsbedingungen entfernt. Die spätere Entfaltung des Produkts Dokumentarfilm in der „nachfilmischen Realität“ geschieht in den verschiedensten Rezeptionskontexten, die denkbar heterogen sind, und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden: Wer sieht was, wann, unter welchen Voraussetzungen und in welchen Vertriebskanälen? Der ZuschauerInnenkreis ist demnach keine ‚black box‘ oder passiver Empfänger, sondern ZuschauerInnen eignen sich je nach Erfahrungshintergrund, Vorwissen und Präferenzen aktiv die dargestellten Filminhalte an. Zu den Rezeptionskontexten der nachfilmischen Realität gehören aber auch Kritiken und Ankündigungen sowie anschließende Sekundärliteratur. Die nachfilmische Realität verweist damit auf das Eigenleben von Dokumentarfilmen, die diese als kulturelles Artefakt in der Öffentlichkeit nachträglich entfalten – oder eben nicht entfalten.

Um vom Zuschauer als dokumentarisch erkannt zu werden, bedient sich der Dokumentarfilm der „Codes des Authentischen“, die beim Zuschauer den überindividuellen Eindruck von Authentizität des Dargestellten hervorrufen sollen (vgl. Hattendorf 1999, S. 84). Hohenberger spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Aktivierung realitätsbezogener Schemata“ beim Zuschauer, um den dokumentarischen Effekt zu erzielen (vgl. Hohenberger 2006, S. 20f.). Diese setzen bereits in den paratextuellen Inszenierungen an, die den Dokumentarfilm als solchen bezeichnen oder andere nichtfilmische Referenzkontexte bemühen (durch entsprechende Klappentexte auf der DVD, in Synopsen von Filmbesprechungen, durch Einsatz entsprechenden Bild- und Fotomaterials etc.). Durch derartige Ausweisungen wird dem potentiellen Zuschauer angezeigt, welche rezeptive Haltung er gegenüber dem Film einzunehmen hat. Die Haltung gegenüber einem Dokumentarfilm weist andere Merkmale auf als die gegenüber einem Spielfilm: „Der Zuschauer, der sich einen Dokumentarfilm ansieht, weiß genau, daß ihn nicht dasselbe Vergnügen erwartet wie bei einem Spielfilm. Für gewöhnlich  hat er sich den Film auch nicht als Freizeitvergnügen zur Stimulierung der Lüste des Imaginären ausgesucht. Er ist sich vielmehr einer ernsten Absicht bewußt, die wenigstens zum Teil durch die besonderen Konstitutionsbedingungen definiert wird“ (Guynn 2006, S. 247).

Die dokumentarische Authentisierung einer innerfilmischen Darstellung wird nach Hattendorf über fünf Authentisierungsstrategien geleistet (vgl. dazu Hickethier 2007, S. 185): 1. Durch die Dominanz des Wort, die die gezeigte Welt in ihrer Bedeutung festschreibt; 2. Durch die Dominanz der Bilder, die auf den Kommentar verzichtet und durch die Auswahl des Gezeigten die Intention des Zeigens bestimmt; 3. Durch ein ausgewogenes Verhältnis von Text und Bild, das sich durch  seine Reflexion einer unmittelbaren Wiedergabe entzieht; 4. Durch die rekonstruierende Inszenierung, die sich meist aus der historischen Rekonstruktion unter Hinzuziehung authentischen Archivmaterials oder dem nachstellenden Reenactment ergibt; 5. Durch metadiegetische Inszenierung in Form von (selbst-)reflexiven Einschüben, die sowohl Subjektivierungen wie Objektivierungen zur Folge haben können.

Diese Einlassungen zeigen, dass Dokumentarfilmen eine Reihe von Merkmalen und Darstellungsformen zugeschrieben werden, die diese vom Spielfilm unterscheiden. Jedoch wird auch deutlich, dass diese Unterschiede weder auf ontologischen Fundamenten ruhen, noch in ihrer Differenz unverrückbare Relationierungen aufweisen. Vielmehr handelt es sich um kulturhistorisch variable Konventionen, die diese Differenzen markieren und verändern. Somit verändern sich im Laufe der Zeit auch die Auffassungen darüber, was als ‚dokumentarisch‘, was als ‚fiktiv‘ erachtet wird. Die Vielzahl der heutigen Mischformen von Docusoap bis Pseudo-Dokumentation (‚scripted reality‘) zeigt die zunehmende Auflösung ehemaliger gattungsspezifischer Grenzverläufe. Diese spielen bis in den Bereich des Musikfilms/des Musikdokumentarfilms hinein. Im Zuge poststrukturalistischer und dekonstruktiver Perspektivverschiebungen werden die Fragen nach kategorialen Bestimmungsgrößen wie Dokumentation und Fiktion neu gestellt. Diese Verschiebungen gehen zurück bis zu den Frühformen des Films zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Rhodes, Springer 2006). Abschließend sollen diese theoretischen Ausführungen auf die Differenzierung von Musikfilm und Musikdokumentarfilm übertragen werden.

Der Musikdokumentarfilm ist ein filmisches Phänomen, das als Genre der Gattung Dokumentarfilm zuzurechnen ist, seine Ursprünge aber gleichzeitig im Musikfilm hat. Sein Gegenstand liegt hauptsächlich in der nichtfilmischen Realität. Er bezieht sich auf einzelne Musiker, Bands oder ganze Musikszenen und nimmt für sich in Anspruch, Informationen, Anschauungen und Wissen über Musik und deren Kulturen diskursiv und ‚authentisch‘ nah zu vermitteln. Es dominiert hier meist das erklärende Wort gegenüber Musik und Bild. Zum Musikdokumentarfilm gehören des Weiteren einzelne Konzertaufzeichnungen, Tournee-Dokumentationen oder die Darstellung von großen Musikfestivals („rockumentaries“). Musikdokumentarfilme finden sich in vielfältiger Form vor allem im Bereich der Pop- und Rock-Kultur, jedoch sind dokumentarische Filmaufnahmen auch im Bereich der klassischen Musik-Kultur – dort vor allem als Live-Mitschnitte bedeutender Opern oder Tanzaufführungen – zu finden. Fraglich ist, inwieweit das Musikvideo als dokumentarisch bezeichnet werden kann – als Dokument seiner Zeit oder aber hinsichtlich seiner innerfilmischen Struktur; ebenso diskutabel ist, ob Musikmockumentarys wie This is Spinal Tap (1984) dem Musikdokumentarfilm zugeordnet werden können. Hier verschwimmen die gewohnten Grenzlinien zwischen nichtfiktionalem und fiktionalem Film, da die Band Spinal Tap zunächst zwar im Film ein reines Kunstprodukt verkörperte, nach dem anschließenden Erfolg jedoch als „richtige“ Band mit CDs und Auftritten in Erscheinung trat.

Dokumentarisch ist der Musikdokumentarfilm wie alle Filme in mehrfacher Hinsicht: Er dokumentiert musikalische Ereignisse vor der Kamera mit den ihm eigenen Mitteln zum Zeitpunkt ihres Geschehens, er arbeitet dokumentarisch-rekonstruktiv an der historischen Darstellung und Aufarbeitung musikkultureller Phänomene durch Verwendung von Archivmaterial und schließlich ist jeder Musikdokumentarfilm filmhistorisch ein (medienästhetisches wie inhaltliches) Dokument seiner Zeit. Die beobachtende Darstellung von Musikszenen und -kulturen rückt den Musikdokumentarfilm in die Nähe ethnographisch-visueller Studien, jedoch sind die ästhetischen Codes oftmals von diesem abweichend.

Ein wesentliches Kennzeichen des Musikdokumentarfilms und dessen künstlerische Herausforderung ist die ästhetische Transformation eines sinnlichen Mediums: die Musik, in ein anderes sinnliches Medium: den Film. Die Möglichkeiten der musikdokumentarischen Darstellung sind denkbar vielfältig, werden jedoch heutzutage in populärer Form oft von Interviewfilmen getragen, in denen der filmkünstlerische Aspekt nachrangig behandelt wird. Während Musik als begleitende Filmmusik ein wichtiges Element des Spiel- und Dokumentarfilms ist, rückt Musik als Zentralthema im Musikdokumentarfilm in den Mittelpunkt der filmischen Arbeit. Auch wenn klassische filmmusikalische Überlegungen auf den Musikdokumentarfilm übertragen werden können, so rücken diese das Thema doch selbst noch einmal in ein anderes Licht der Betrachtung: die filmgestalterische Ästhetisierung des Themas Musik selbst.

Es ist unschwer von der Hand zu weisen, dass Musikdokumentarfilme einen wichtigen Bestandteil des pop-/rock- und jugendkulturellen, aber auch des klassischen Musikmarktes ausmachen: Sie dienen als kommunikatives Verständigungs-, Informations- und Verbreitungsmedium sowie Merchandising-Instrument verschiedener SängerInnen, Bands, Musikszenen und Musikkulturen; sie lassen breite globale Massen an musikalischen Einzelereignissen partizipieren; sie tragen zur Visualisierung und Ästhetisierung von Musik bei; sie konservieren und rekonstruieren die Entwicklungsgeschichten von Bands, Musikszenen und Musikkulturen; sie haben Erinnerungs- und Gedächtnisfunktionen; sie dienen zur Herstellung kollektiver Identitäten; sie geben Einblicke in Jugend- und Musikkulturen; sie haben Domestizierungsfunktionen, in dem sie das Unberechenbare, Kritische und Ungestüme von Jugend- und Musikkulturen massenmedial zähmen, in dem sie es vertraut machen. Musikdokumentarfilme bieten so aus genannten Gründen ein Feld film- und kulturwissenschaftlicher sowie soziologischer Analysen.

Angesichts der Unübersichtlichkeit und der unscharfen Kriterien zur Bestimmung des Begriffs Musikfilm erscheint die Differenzierung in fiktive Musikfilme und nicht-fiktive Musikdokumentarfilme ein lohnenswertes Unternehmen, um das dokumentarisch-informative vom fiktiv-erfundenen Filmbild abzugrenzen. Obwohl Inszenierung, Narration und Dramaturgie – die wesentlichen Kernmerkmale des fiktiven Films – ebenso Gestaltungselemente des Musikdokumentarfilms sind, um das Charakteristische von Musik im Bild darstellen zu können, ist weiterhin am Dokumentarischen als Darstellungsform festzuhalten. Schon allein die weiteren Differenzierungen, wie wir sie exemplarisch in Punkt 3 vornehmen werden, verdeutlichen, dass das Genre des Musikdokumentarfilms sich in eine Vielzahl weiterer Sub-Genres unterteilen lässt.[4] Damit wollen wir keine neuen gattungsspezifischen Ontologien aufstellen, oder gar fragwürdig gewordene Genre-Grenzen neu setzen, sondern verfolgen vielmehr das Ziel, Kriterien zur Unterscheidung des dokumentarischen und des fiktionalen Musikfilmbildes zu finden und auf dieser Grundlage den unterschiedlichen Charakter der Genres zur Diskussion stellen. Ein Musikfilm wie Moonwalker (1987) von Jerry Kramer, Jim Blashfield und Colin Chilvers bleibt trotz des sich selbst spielenden, realen Protagonisten Michael Jackson fiktiv, umgekehrt ist selbst eine psychedelische Filmcollage wie MC5: Kick Out the Jams (2005) von Leni Clair und Cary Loren, die mit assoziativen und farbästhetischen Verfremdungen die Band MC5 live in Szene setzt, ein dokumentarischer Film. Eine Unterscheidung von Musikfilmen und Musikdokumentarfilmen verspricht unserer Auffassung nach eine stärkere Systematisierung des Gegenstands.

Auf der Kommunikationsebene gibt es eine Reihe weiterer Gründe zur Differenzierung beider Darstellungsformen. Der wichtigste Grund liegt wohl in den unterschiedlichen sozialkommunikativen Vermittlungsfunktionen (vgl. Hohenberger 2006, S. 20f.): Während der Musikdokumentarfilm aufklären, beobachten und informieren will, dabei Einblicke in unbekannte Welten und Perspektiven bietet und letztlich  zeit-/räumliche Begrenzungen von Musikkulturen zu überwinden versucht, steht der Spielfilm primär für eine konsumistische, austauschbare und unterhaltende Kommunikationsform, auch wenn dieser durchaus informativ sein kann. Auch wenn der fiktive Musikfilm realitätsbezogene Kontexte aufweist, bleibt er oftmals Narrativierungen und Inszenierungen verhaftet, die gängige Klischees und Stereotype des Musiker- oder Bandlebens mit einem Schuss romantischer Dramatik reproduzieren. Zur Herausarbeitung der wesentlichen Unterschiede in der ‚Lebensbildproduktion‘ zwischen Musikfilmen und Musikdokumentarfilmen bieten sich eine Reihe von Filmen an, die sowohl fiktional wie dokumentarisch denselben Gegenstand behandeln, wie etwa im Fall Jerry Lee Lewis: Hier läge ein gattungsübergreifender Vergleich zwischen dem fiktionalen Musikfilm Great Balls of Fire (1989) und dem Musikdokumentarfilm Jerry Lee Lewis – The Story of Rock‘n Roll (2003) nahe.

Musikdokumentarfilme bevorzugen per se einen anderen Zugang zur außerfilmischen Wirklichkeit als fiktionale Musikfilme. In Gestaltung, Ästhetik, Montage und Musikverwendung weisen Musikdokumentarfilme andere Formen auf als fiktionale Musikfilme. Auch wenn Musikdokumentarfilme Fiktionalisierungen ihres Gegenstandes durchaus zulassen und oftmals nur durch sie zu ästhetisch anspruchsvollen Produkten werden  – was bei der visuellen Transformation eines sinnlichen Mediums wie Musik nicht weiter verwunderlich ist – so bewegen sich diese Fiktionalisierungen in einem referentiell gänzlich anderen Gestaltungsrahmen als im fiktionalen Musikfilm.

Im folgenden Abschnitt wollen wir näher auf das Verhältnis von Musik und Film eingehen und dem Einsatz von Musik im Dokumentarfilm eingehen.

 2. Verwendungsweisen von Musik im Dokumentarfilm

Im Jahr 1970 kritisierte Wim Wenders die Darstellung von Musik im Film. Für die Zerstörung des musikalischen Erlebnisses durch den Film machte er vor allem die „schnelle Montage der Bilder“, die „Reißschwenks und Zooms“ sowie die ständigen Überblendungen verantwortlich (vgl. Kiefer, Schössler 2004, S. 50). Die Entfaltung der Musik als eigene Sprache im Zeitpunkt ihres Entstehens, im Idealfall ‚live‘, werde nach Wenders geopfert zugunsten einer anderen, der „psychedelisch gewordenen“ Filmsprache. Musik und Film entsprächen sich im modernen Musikfilm demnach keineswegs: „Das Dilemma der Musikfilme besteht also darin, eine Balance zu finden zwischen dem Rhythmus eines Songs oder einer ganzen Performance und der Dynamik ihrer filmischen Darstellung“ (ebd., S. 51).

Im Musikdokumentarfilm wird Musik in mehrfacher Hinsicht zum Gegenstand der Darstellung. Musik ist zum einen klanglicher Bestandteil in Form der im Film verwendeten Musik, die in erster Linie aus der betrachteten Musikkultur als Filmmusik hinzugefügt wird. Unter Filmmusik wird dabei die Musik verstanden, die die Gesamtintention des Films unterstützen und zum Erleben des Films beitragen soll (vgl. Kreuzer 2009, S. 18). Der Bereich der Filmmusik ist ein zentrales Thema der gesamten Filmgestaltung. So wird in den meisten ethnographischen Musikkulturdokumentationen auf Musik zurückgegriffen, die signifikant mit dieser in Verbindung steht und dadurch entsprechende Assoziationen beim Zuschauer auslöst. Jedoch ist dies nicht immer der Fall, wie etwa im Black Metal-Genrefilm Until The Lights Take Us (2008) über die norwegische Szene, in dem elektronische Klänge mit einer sanften Frauenstimme die frostigen und klirrenden Eislandschaften Norwegens versinnbildlichen, aus denen heraus der Black Metal seine kalte Klangästhetik bezieht. Ein derart kontrafaktischer Einsatz von Musik im Musikdokumentarfilm kann irritierende Wirkungen beim Betrachter auslösen und dadurch die Filmbilder be- oder hinterfragen bzw. entrücken. Die Musik wird von außen an den Film herangeführt und hat epistemologische Wirkungen. Ton und Bild werden so gezielt in ein antagonistisches Verhältnis zueinander gestellt. Man spricht dann auch von einer „kognitiven Dissonanz“ in der Filmrezeption (vgl. ebd., S. 20; zur kognitiven Dissonanz siehe auch Festinger 1957). Musik wird atmosphärisch-assoziativ. Filmmusik im Musikdokumentarfilm, die sich nicht synchron aus der dargestellten Wirklichkeit der innerfilmischen Realität ergibt, wie bspw. bei einem Live-Auftritt oder der Darstellung von Proben im Studio, bezeichnet man als „innere Realität“ (vgl. Schneider 1989, S 23ff.): Sie entspricht einer Versinnbildlichung von Musik mit stark gestalteter Perspektive, die nicht an alltägliche Wahrnehmungsformen gebunden ist. Dazu gehören Zooms, Großaufnahmen, Fahrten, Zeitlupe, Vogelperspektive, die damit das Wesen der Musik zum Ausdruck bringen und sich nicht intradiegetisch ableiten lässt. Es handelt sich hierbei um eine Form des Musikeinsatzes, die sich nicht aus dem Filmbild selbst ergibt, sondern als Untermalung, als Assoziation, als Stimmung oder Atmosphäre dem Film von außen beigefügt wird. Die „innere Realität“ der dokumentarfilmischen Musik enthebt diese von Raum und Zeit und bricht diesen für die menschliche Wahrnehmung zwingenden Zusammenhang auf.

Musik ist zum anderen visuell-thematischer Gegenstand des Musikdokumentarfilms. Es handelt sich hierbei um Fragen der Transformation eines klanglichen in ein bildliches Medium. Form- und Gestaltungsfragen von Visualisierungen der Musik sind kunstgeschichtlich notorisch und deren Entsprechung immer wieder diskutiert worden (vgl. Weibel 1987, S. 53). Zwischen Musik und Bild besteht demnach eine enge innere Beziehung, die Gattungsgrenzen beider künstlerischer Artikulationsformen werden durch Transmedialisierungen zunehmend aufgelöst (vgl. Brandstätter 2008, S. 168ff.). So kann Musik symbolisch über Musikinstrumente, etwa die E-Gitarre oder das Mischpult, über bedeutsame Personen und Orte dargestellt werden, die unmittelbar zur Erzeugung von Musik, einem spezifischen Genre von Musik gehören. Diese stehen dann stellvertretend für eine Szene, eine Kultur, einen musikhistorischen Zeitabschnitt oder eine bestimmte Art von Musik. Musik wird damit subjektiv oder gegenständlich im Filmbild verortet. Darüber hinaus gibt es auch andere transformative Sinnentsprechungen der Musikdarstellung, etwa wenn die Schrifteinblendungen auf den Texttafeln in Slide Guitar Ride (2005) den Schwingungen von Gitarrenseiten nachgeahmt werden. Musik kann aber auch als „äußere Realität“ im Filmbild erscheinen. Dieser Einsatz von Musik entspricht der menschlichen Seh- und Hörerfahrung, die Einheit von Zeit und Raum bleibt erhalten. Es wird mit einem Minimum an filmtechnischer Gestaltung gearbeitet (vgl. Schneider 1989, S. 23). Es besteht eine synchrone Ton-Bild-Relation wie beispielsweise bei der Darstellung eines Live-Konzerts. Der Einsatz von Musik unter diesem Aspekt ergibt sich gegenständlich aus der filmischen Abbildung und wird nicht aus dem Off an das Filmbild von außen herangeführt.

Während die „äußere Realität“ des dokumentarfilmischen Musikeinsatzes die Wahrnehmungsseite des Rezipienten als sinnliches Erkennen und rationales Erfassen berührt, bezieht sich die „innere Realität“ des dokumentarfilmischen Musikeinsatzes auf die Erlebnisseite als emotionale Einfärbung des Wahrgenommenen (vgl. ebd., S. 28f.). Letztere ist deshalb die ungleich schwerer zu gestaltende Seite des dokumentarfilmischen Musikeinsatzes: „Bezüglich der ‚inneren Realität‘ eines Films ist die Musikfrage nur komplex zu beantworten. ‚Innere Realität‘ ist kein nebuloser [sic!] Freiraum subjektiver Eigenwilligkeiten, wo jede Musikverwendung erlaubt ist (da die kontrollierenden Kriterien für das ‚Innen‘ des Filmautors anscheinend fehlen). ‚Innere Realität‘ ist der Ort, an dem mit Nachdruck die Frage nach der Authentizität (der Glaubwürdigkeit, Echtheit) von Musik zu stellen ist“ (ebd., S. 28). Während also die „äußere Realität“ der Filmmusik an der alltäglichen Wahrnehmung unseres Gehörsinns orientiert ist und damit realitätsnah ohne Probleme rezipiert werden kann, spricht die „innere Realität“ der Filmmusik unsere Fantasie und unser Assoziationsvermögen an. Musik fungiert in dieser Hinsicht als (kontrapunktisches) Erkenntnismedium selbst, dessen Erkenntniswert sich erst aus dem Verhältnis zum Inhalt des Filmbildes ergibt.

Schließlich ist Musik neben ihren klanglichen Qualitäten ein sprachlich-diskursives Thema des Musikdokumentarfilms. Einerseits erfolgt die Diskursivierung auf der visuellen Ebene über die eingesetzten Bilder, andererseits über die narrativen Sprach- und Deutungsmuster der Experten. Die Diskurse müssen anschlussfähig an das Vorwissen der Rezipienten gebunden sein, um sie für diesen verstehbar zu machen. In dieser Hinsicht wird Musik zum besprochenen, letztlich rationalisierten Gegenstand. In der dokumentarfilmischen Reflexion einzelner Kulturen, Szenen oder Bands werden Interpretationen und Mythen durch Experten festgeschrieben und visuell domestiziert. Diese Experten entscheiden durch die ihnen zuerkannte Authentizität in hohem Maße über Entwicklungsperspektiven und zeitliche/räumliche Ursprungserlebnisse in Musikkulturen und sie dominieren den herrschenden Diskurs. Insofern wird in derartigen Darstellungen nicht auf die Ähnlichkeit zwischen Sprache und Musik oder Musik als Sprache rekurriert, wie es die ästhetische Theorie tut (vgl. Brandstätter 2008, S. 165f.), sondern rein auf deren begriffliche Wahrnehmung und Rekonstruktion. Kulturgeschichtlich oder szenespezifisch orientierte Musikdokumentarfilme mit informativen und aufklärerischen Gehalt unterwerfen dabei ihren Gegenstand, die Musik, den diskursiv-sprachlichen Ausdeutungsweisen und rauben dieser dadurch ein Stück weit ihren sinnlichen bzw. auratischen Gehalt: „Die weitgehend automatisierte Wahrnehmung, die auf die begriffliche Identifikation von Gegenständen und Eigenschaften zielt, führt letztlich zum Verschwinden der Welt und ihrer sinnlichen Anschauung. Aufgabe der Kunst ist es, die konventionalisierten Sichtweisen aufzubrechen und damit die Wiedergewinnung sinnlicher Wahrnehmung zu ermöglichen“ (ebd., S. 106). Während frühere Musikkulturen Wert auf ausgefeilte visuelle Umsetzung innerer surrealistischer Erlebniswelten legten und damit einen wichtigen Wesenszug von Musikkulturen der 1960/70er Jahre aufzeigten, sind heutige Musikerlebniswelten in hohem Maße kommerzialisiert und rationalisiert (vgl. Voullième 1998, S. 421f.). Dies hat zur Folge, dass kulturgeschichtliche oder ethnographische Musikdokumentarfilme heutzutage über die einzelnen Genregrenzen hinweg nach ähnlichen narrativen Diskursmustern aufbereitet werden, um ein möglichst breites Publikum zu adressieren. Ob nun in We Call It Techno (2008) oder Heavy Metal: Louder Than Life (2006): Beide Filme arbeiten mit ähnlichen chronologischen Mustern, Experteninterviews, Schnitten und Narrativen der historischen Darstellung. Beim musikdokumentarischen Film über die Techno-Szene kommt hinzu, dass diese ursprüngliche eine bewusst bilderlose Musikkultur verkörperte, die auch die Autorschaft in der Musik negierte. Mittlerweile hat sich aber auch diese Überzeugung offenbar gewandelt und neben dem genannten We Call It Techno (2008) eine weitere, rein narrative Dokumentation wie The History of Electronic Music (2006) hervorgebracht, die in hohem Maße diese Musikkultur durch Experteninterviews subjektiviert.

Im folgenden Abschnitt werden nun die Wurzeln des musikdokumentarischen Filmbildes dargestellt.

 3. Die historischen Wurzeln musikdokumentarischer Filmaufnahmen

Der erste Tonfilm der Filmgeschichte war ein Musikfilm, sofern man den Begriff in einem weiten Sinne begreift. The Jazz Singer (1927) handelt vom Aufstieg des armen jüdischen Sängers Jakie Rabonwitz zum Broadway-Star. Obwohl im Film wenig gesungen und musiziert wird, ist der Gegenstand doch im musikalischen Kontext zu verorten und trägt biographische Züge, was sich bereits im Titel andeutet. Ist allein der musikkulturelle Kontext entscheidend, so führt die Geschichte des Musikfilms noch weiter zurück und beginnt zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit wurden bereits Filme, deren Inhalt Musik darstellte oder sich auch Musik bezog, produziert. Einer der bekanntesten musikbiographischen Stummfilme stellt Carl Froehlichs Richard Wagner. Ein kinematographischer Beitrag zu seinem Lebensbild (1913) dar (vgl. Maas, Schudack 2008, S. 16ff.).

Erste musikdokumentarfilmische Aufnahmen tauchen zu Beginn der 1930er Jahre im Bereich des Blues auf. So beinhaltet der Kurzfilm St. Louis Blues (1929), der vom RCA Phototone Studio als Vorfilm ähnlich der Wochenschauen gedreht wurde, eine Liveszene mit der Bluessängerin Bessie Smith an der Bar eines Restaurants, während sie den St. Louis Blues singt.[5] Dieses Lied, geschrieben von W. C. Handy, der gemeinsam mit Kenneth W. Adams  das Drehbuch für den späteren Kurzfilm schrieb[6], war bereits 1925 äußerst erfolgreich von Bessie Smith und Louis Armstrong eingespielt worden. Schon zu dieser Zeit setzte eine musikdokumentarische Welle ein, die den weiteren Erfolg des Blues markierte. Der kurze Live-Ausschnitt in St. Louis Blues trägt bereits Züge späterer Musikvideoclips, in denen die Künstler live vor der Kamera agieren und ihre Musik visualisieren. Dokumentarisch sind diese Aufnahmen insofern, als Bessie Smith und ihre Band sich selber spielen und als ‚reale Künstler‘ im Film auftreten.

Im Rahmen des Versuchs, populäre Musik im Bild festzuhalten, entstanden bereits Ende der 1920er Jahre eine Reihe von Bluesmusik-Aufnahmen im Studio, in denen MusikerInnen ihre Lieder vor inszenierter Kulisse sangen und damit dem Blues ein Gesicht und einen visuellen Raum gaben. Die auditive Dokumentation von Blues- und Folk-Musik, die später Filme ergänzten, wurde vor allem durch Alan Lomax vorangetrieben, der seit Mitte der 1930er Jahre immer wieder zu Reisen aufbrach, auf denen er den Wurzeln der amerikanischen Folk-Musik nachspürte und einzufangen versuchte. Schon früh widmete sich der junge Lomax im Auftrag der Library of Congress in Washington dem Aufbau eines Archive of American Folk Song. Mitte der 1960er Jahre entstand unter seiner Mitarbeit der Musikdokumentarfilm Devil Got My Woman Blues At Newport (1966). Eine prominente Wiederverwertung früher und seltener Archivaufnahmen findet sich in Martin Scorseses Musikdokumentarfilmprojekt The Blues (2003), in dessen Rahmen verschiedene Musikdokumentarfilme über die Wurzeln des Genres mithilfe verschiedener Regisseure entstanden.

Der Tonfilm verhalf ab 1927 auch dem amerikanischen Musical-Film zum Erfolg. Da der frühe Tonfilm aus technischen Gründen nicht geschnitten werden konnte, arbeitete dieser mit langen Einstellungen des Bühnengeschehens (vgl. Maas, Schudack 2008, S. 17 und S. 84ff.).  Gerle erkennt die Ursprünge der audiovisuellen Verarbeitung von Musik in dem Format der Musik- und Revuefilme, in denen die ‚Nummern‘ vorgetragen wurden; exemplarisch hierfür werden von ihm auch die Cartoon-Filme Walt Disneys genannt (vgl. Gerle 2010, S. 135f.) In Deutschland waren es Operettenfilme und Musikkomödien mit singenden Schauspielern, die in den 1930er und 1940er Jahren sehr beliebt waren. Trotz fiktionaler Rahmung können die von Stars gesungenen Lieder aufgrund ihres Bühnen-Aufführungscharakters als durchaus dokumentarisch bezeichnet werden.

Der Bereich des avantgardistischen Kunstfilms arbeitete schon in den 1920er Jahren zu filmischen Experimenten mit Ton und Bild (vgl. ebd., S. 136). Ruttmann, Eggeling und Fischinger sind bekannte Medienkünstler ihrer Zeit, die eine ästhetische Entsprechung von Musik und Bild suchten. Diese Experimente waren inspiriert von Farbenhören und Musiksehen als künstlerischem Programm. Sie griffen damit die physiologischen und physikalischen Grundlagen der Synästhesie auf, wie sie bereits 1666 von Isaac Newton in Bezug auf die Ähnlichkeit von Farben und Tönen thematisiert worden waren. Seit dieser Zeit gab es von Seiten der verschiedenen Künste, Malern, Musikern, Dichtern und Wissenschaftlern, immer wieder Versuche, das Hörbare zu visualisieren (vgl. Weibel 1987, S. 54ff.). Die Faszination von sichtbarer, visueller Musik und der Transformation von Musik in Farben und Formen bzw. Farben und Formen in Musik ließ Künstler und Wissenschaftler nicht mehr los. Bereits in der Antike finden sich Bebilderungen musikalischer Szenen und stellen einen Zusammenhang von Bild und Musik her (vgl. Custodis 2010, S. 70). In den 1910er Jahren waren es als Vorläufer des Experimentalfilms die Futuristen, die in ihren Manifesten die Synästhesie von Musik und Bild beschworen. So schrieb Carlo Carrà 1912 in „Die Malerei der Töne, Geräusche und Gerüche“: „Wir futuristischen Maler erklären, daß die Töne, Geräusche und Gerüche im Ausdruck der Linien, der Volumen und Farben in der Architektur eines Musikwerkes Gestalt annehmen. Unsere Bilder werden also auch die bildnerischen Äquivalente der Töne, Geräusche, Gerüche…zum Ausdruck bringen“ (Carrà 1912, o. S. zit. N. Weibel 1987, S. 60). Die Musikvideo-Ästhetik nimmt hier ihren Anfang. Die weiteren Entwicklungen früher Experimente zur Synästhesie von Bild und Musik finden sich heute aber auch in verschiedenen Inszenierungen von Klangbild-Künstlern, Installationen, multimedialisierten Konzertbühnen und in Musikdokumentarfilmen mit ästhetischem Anspruch (vgl. ebd., S. 119ff.). Für den Musikdokumentarfilm bieten diese Überlegungen zur Visualisierung von Musik wichtige Einsichten zur Inszenierung und Gestaltung von Musik über die rein informative und aufklärende Ebene hinaus: zur Herstellung musikalischer Sinnbilder. Ein erster Boom musikdokumentarischer Filmaufnahmen beginnt in den 1950er und 1960er Jahren mit der Popularisierung von Jugend- und Musikkulturen im damals neuartigen Leitmedium Fernsehen. Neben einer Reihe von fiktionalen Musikfilmen, in denen Musiker ihre Songs im Rahmen eines eher nebensächlichen Erzählplots selbst sangen und damit zu deren audiovisuellen Verbreitung beitrugen, kamen bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die ersten Live-Aufnahmen von Stars vor der Kamera und einem tanzenden oder klatschenden Publikum auf. Hierbei handelte es sich jedoch nicht um Musikvideos im eigentlichen Sinne, sondern um Auftritte von Künstlern, die mit einfacher Studiotechnik und wenig Kameras dokumentarisch eingefangen wurden (vgl. Maas, Schudack 2008, S. 297).

Ende der 1950er Jahre entsteht dann der erste längere Musikdokumentarfilm im Rahmen von Aufnahmen eines Jazz-Musikfestivals: „Eine Neuentwicklung im Rockfilm deutete sich mit JAZZ AN EINEM SOMMERABEND an. Es ist der erste abendfüllende Dokumentarfilm über ein Musikfestival und legte damit gewissermaßen den Grundstein für Filme wie MONTEREY POP  oder  WOODSTOCK. Seit 1954 fanden in Newport, Rhode Island, Jazzfestivals statt, auf denen populäre und noch unbekannte Musiker vorgestellt wurden. Die Dokumentation JAZZ AN EINEM SOMMERABEND entstand während des Festivals 1958“ (Struck 1985, S. 33). Anders als der fiktive Musikfilm, versuchten Musikdokumentarfilme zunehmend, einzelne Musikereignisse festzuhalten und für ein breites massenmediales Publikum anschlussfähig zu machen.

Als dokumentarisch sind auch die jugendmusikorientierten Fernsehsendungen der 1960er Jahre zu bezeichnen. Bei der T.A.M.I. Show („Teenage Awards Music International“) handelte es sich um den ersten großen Film, in dem Konzerte und Live-Auftritte aus verschiedenen Rock- und Popbereichen zusammengebracht wurden (vgl. Marcus 1979, S. 385). Die Aufnahmen zu dieser Show entstanden bei einem Konzert im Santa Monica Civil Auditorium im Oktober 1964. Die musikalischen Darbietungen sind aufgrund der technisch eingeschränkten Möglichkeiten einfach und schlicht in Bild und Ton festgehalten, das Applaudieren und Kreischen übertönt oftmals die einzelnen Auftritte der SängerInnen und Bands (vgl. Struck 1985, S. 64).

Weitere musikdokumentarfilmische Live-Auftritte im Fernsehstudio finden sich in TV-Sendungen wie Top of the Pops (BBC) (1964-2006) oder dem in Deutschland sehr populären Beat-Club (1965-1972). Auch der Musikladen (1972-1984) und Disco (1971-1982) inszenierten Live-Auftritte von SängerInnen und Bands, ebenso wie Formel Eins (1983-1987) (vgl. Gerle 2010, S. 136f.). Der deutsche Schlager fand sein populäres TV-Sendungsformat in Dieter Thomas Hecks Hitparade (1969-2000). Andere TV-Sendungen mit unterschiedlichen Musikausrichtungen wären hier zu nennen. Seit Mitte der 1980er Jahren übernahmen dann MTV, seit den 1990er Jahren VIVA vor allem mit Videoclips, aber auch mit Live-Auftritten und anderen Darstellungsformaten die Vorherrschaft im Musikfernsehen. MTV ist kürzlich in den Pay-TV-Bereich abgewandert und hat sein Programm von einem Musikprogramm hin zu einem jugendlichen Dokusoap-Programm umgestellt.

Die T.A.M.I. Show stand am Beginn einer Ära der Konzertfilme (vgl. Marcus 1979, S.386). Ende der 1960er Jahre entstanden die großen, bis heute stilprägenden dokumentarischen Rockumentaries Woodstock (1970) von Michael Wadleigh, Monterey Pop (1968) von Donn Alan Pennebacker und Gimme Shelter (1970) von Albert und David Maysles. Alle drei Filme arbeiteten mit einer eigenen und neuen Form der ästhetischen Gestaltung: dem Direct Cinema  bzw. Cinema Vérité. Diese neue ästhetische Gestaltungsform, die nicht zuletzt auf technische  Entwicklungen in Richtung kleiner und handlicher 16mm Kameras mit der Möglichkeit synchroner Tonaufnahmen zurückzuführen ist, war zuvor schon von Donn Alan Pennebacker erfolgreich im Tourneefilm mit Bob Dylan in Don’t Look Back (1967) angewandt worden und setzte für den Musikdokumentarfilm neue Maßstäbe hinsichtlich Nähe, Authentizität und Musikästhetik (vgl. Kiefer, Schössler 2004, S. 50f.). Das Verfahren des Direct Cinema bzw. Cinema Vérité ist die bis heute wohl einflussreichste Form der musikfilmdokumentarischen Ästhetik, auch wenn sich bestimmte Klischeebildungen darin bereits Ende der 1970er Jahre eingeschrieben hatten: „Und so wurden die Filme veröffentlicht, einer nach dem anderen, die meisten von ihnen übernahmen die Motive der Ausbeutungsfilme der fünfziger Jahre, ließen aber deren befreiende Vulgarität vermissen: du richtest eine Kamera auf einen Star, er sang, vielleicht murmelte er irgendetwas hinter der Bühne, sprang in eine Limousine, sah geschafft aus, und die Leute zahlten, um das zu sehen“ (Marcus 1979, S. 388). Obwohl das Direct Cinema und das Cinema Vérité vor allem das Eintauchen und Einfangen musikalischer Ereignisse in möglichst realitätsnaher, dichter und authentischer Form verfolgen, ist dieses nicht mit einem falsch verstandenen Abbildrealismus zu verwechseln: Denn auch dem Direct- oder Vérité-Künstler geht es nicht nur um die bloße Dokumentation von Musik, ihrer Orte und Fans, sondern auch hier werden performative und ästhetisierende Elemente zu audiovisuellen Stilbildungen eingesetzt, wie sich dies etwa in Wadleighs Splitscreen-Verfahren zeigen lässt (Ehrenstein, Reed 1982, S. 78). Dieses Verfahren wurde jüngst von Jonathan Caouette in All Tomorrow’s Party (2009), einem Konzertfilm über ein Alternative-Festival in Südengland, wieder aufgegriffen. So zeigen zwar Musikdokumentarfilme im Direct- oder Vérité-Stil Musiker und ihre Fans möglichst realitätsnah in ihren jeweiligen Wirklichkeiten, jedoch darf dabei die künstlerische Bildgestaltung, die einen Sinnüberschuss über das medial Dargestellte hinaus produziert, nicht aus den Augen verloren werden. Denn gerade hier offenbart sich die hohe Könnerschaft des/der Musikdokumentarfilmers/in, ein visuell schwer greifbares, sinnlich-emotionales Medium wie die Musik mithilfe filmischer Bilder unter Verwendung einer bestimmten Technik in eine ästhetisch anspruchsvolle und gleichzeitig informative und aufklärende Form zu bringen. Während sich dem fiktiven Musikfilm alle Freiheiten des Spielfilms eröffnen, hat sich der/die Musikdokumentarfilmer/in an den Widerständigkeiten musikkultureller Wirklichkeiten abzuarbeiten und Sehgewohnheiten der Zuschauer zu berücksichtigen, ohne in langweilige und belanglose Klischeebilder zu verfallen.

Das Direct Cinema bzw. Cinema Vérité hat großen Einfluss auf ethnographische oder biographische Musikdokumentarfilme genommen. Alle großen Jugend- und Musikkulturen verfügen mittlerweile über eine wachsende Anzahl an szene- oder bandtypischen Filmen. Auch kleine lokale Musikszenen schreiben sich filmisch immer häufiger ihre eigene Geschichte und ihren eigenen Entstehungsmythos an. Dadurch werden filmische Diskurse über Entstehung und Entwicklung von Jugend- und Musikkulturen in Gang gebracht. Der Markt an ethnographischen und musikhistoriographischen Musikdokumentarfilmen ist kaum mehr zu überblicken. Auf diesem Feld hat sich das Experteninterview als wichtige Form der musikkulturellen Artikulation heraus kristallisiert, das in immer gleicher Art der Darstellung und unter Bemühung des immer gleichen Mythos des Ursprungserlebens inszeniert wird. Dennoch ist es nachvollziehbar, dass Musik als nichtstoffliches Medium im Dokumentarfilm personifiziert wird, da dies die visuelle Verortung erleichtert (vgl. Custodis 2010, S. 68). Zusätzlich wird dadurch die Attraktivität und der Interessantheitsgrad für den Zuschauer erhöht: „Die überwiegende Zahl von Musikdokumentationen nutzt Personifikationen, um die Geschichte von Stücken zu erzählen, da leicht vorstellbar ist, wie viel attraktiver sich eine Komposition filmisch aufbereiten lässt, wenn prominente Künstler, ergriffene Zuhörer und engagierte Organisatoren ins Bild zu setzen sind“ (ebd., S. 78). So gleichen sich die diskursiven Geschichten über die Entstehung und den Beginn des Techno/der elektronischen Musik, des Punk, des Heavy Metal, des Hip Hop/Rap im Musikdokumentarfilm narrativ in erstaunlicher Weise. Immer wieder werden das hohe Potential an Kreativität, die auratische Dynamik des Neuen, die Interessantheit und Zukunftsoffenheit der zunächst kleinen und überschaubaren Szene, die Regionalität und Ortsgebundenheit lokaler Musikentwicklungen, die allmählich wachsende Verbreitung und ihre Trittbrettfahrer, der nun einsetzende Erfolg sowie die spätere Ausbeutung und Kommerzialisierung und damit einhergehend: die Veränderung des Ursprungscharakters strukturell heraus gestellt. Augenzeugen,  Experten und Teilnehmer der Anfänge vermitteln ein hohes Maß an Authentizität, Verbindlichkeit der Aussage und Autorität. Die Glaubwürdigkeit in der Darstellung des unmittelbar Erlebten wird durch Experteninterviews somit erhöht. Damit beanspruchen sie Geltung ihrer Deutungen und Interpretationen und setzen musikkulturelle Diskurse in Gang, die die Sicht auf ganze Szenen strukturieren und dominieren. So ähneln sich die Heavy Metal-Dokumentationen Metal: A Headbangers Journey (2005) von Sam Dunn und Heavy Metal: Louder Than Life (2006) von Dick Carruthers trotz unterschiedlicher Inszenierungsformen[7] nicht nur in ihrer strukturellen Gestaltung der Inhalte, sondern es tauchen etwa mit Dee Snider der Gruppe Twisted Sisters auch dieselben Gesprächspartner auf. Mittlerweile finden sich für diese Musikkultur nicht nur überblicksartige Musikdokumentarfilme, sondern es werden mit Death Metal: A Documentary (2004) – auf dessen DVD-Klappentext es heißt: „The story of Death Metal is told by a variety of experts, all of whom have helped to shape the genre“ – von Bill Zebub, mit Get Thrashed: The Story of Thrash Metal (2008) von Rick Ernst oder mit Such Hounds, Such Hawks: Scenes From The American Hard Rock Underground (2009) von John Srebalus verschiedene Sub-Genres des Heavy Metal beleuchtet.

Heutzutage finden sich musikdokumentarfilmische Formate im Konzertbereich, als Feature oder Dokumentarfilme, als Reality-TV-Shows in Form der Dokusoap oder der Castingshow und als biographische oder ethnographische Szenefilme (vgl. Maas, Schudack 2008, S. 136ff.; dazu auch die entsprechenden Artikel in Moormann 2010). Der Erfolg des Musikdokumentarfilms liegt nicht zuletzt an der Entwicklung neuer Medien (DVD), der Verbilligung technischen Equipments sowie der Möglichkeit neuer Vertriebskanäle durch das Internet. Hinzu kommt, dass trotz ihres großen Einflusses diese Entwicklungen nicht nur auf dem jugend- bzw. pop-/rockkulturellen Sektor durchschlagen, sondern vor allem auch im klassischen Musikbereich zu finden sind (vgl. Beyer 2010, S. 147-154; Koebner 2010, S. 155-184).

 4. Musikdokumentarfilmische Subgenres

Im Folgenden wollen wir einige Idealtypologien einzelner Subformen des Musikdokumentarfilms skizzieren. Dabei sollen die Differenzierungen vor allem thematisch-inhaltlich begründet werden. Die Typologie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie wird der Komplexität ihres jeweiligen Gegenstandes ebenso wenig gerecht. Die Abweichung bildet wie bei allen Typologien die Regel. Beabsichtigt ist lediglich eine Anregung zur weiteren Diskussion. Die Zuordnung erfolgt aufgrund des inhaltlichen Schwerpunkts, wobei die Grenzen zu benachbarten Formen fließend sind. Die charakteristischen Kriterien werden in aller Kürze dargestellt und sind weiter zu ergänzen bzw. zu modifizieren. Wir versprechen uns jedoch von einer ersten Typologie eine Differenzierung des komplexen Genres Musikdokumentarfilm.

1. Konzertfilm (Rockumentary)

Konzertfilme zeichnen sich prinzipiell durch ihren singulären und einmaligen Ereignischarakter aus. Es handelt sich um Live-Aufzeichnungen von einem einzelnen Konzertauftritt, teilweise auch um Zusammenschnitte mehrerer Auftritte einer Tournee (siehe auch Tourfilm). Im Mittelpunkt steht das Musikereignis selbst. Diese Form des Musikdokumentarfilms lebt von der ‚livehaftigen‘ Aura des unmittelbaren Miterlebens und der Illusion des Dabeiseins. Das Miterleben ist allerdings visuell eingeschränkt und an die subjektive Perspektive des Filmemachers gebunden.

Beinahe jede(r) SängerIn, jede Band verfügt über eigenes Live-Material. Hinzu kommt, dass auf der Plattform YouTube massenhaft Livemitschnitte existieren, die von Musikbegeisterten oder Fans mittels Handykamera aufgezeichnet und eingestellt worden sind. Dadurch hat sich eine ganz eigene Art der Konzertästhetik entwickelt, die nicht an die konventionellen Formen gebunden ist und am ehesten dem realen Konzerterleben entspricht. Der professionalisierte und standardisierte Blick eines Filmteams wird damit subversiv unterlaufen. YouTube kann mittlerweile wohl als eines der größten amateurhaften Konzertfilmarchive bezeichnet werden.

Konzertfilme zeigen MusikerInnen in ihren Live-Performances, aber auch die tanzenden und jubelnden Fans gehören zum festen Bestandteil. Ebenso finden sich in Konzertfilmen auch der Auf- und Abbau der Bühne, Backstage-Aufnahmen, Interviews mit Fans, Personal und Musikern und weitere Informationen rund um das Konzertereignis. Diese Zusatzeinblicke sind jedoch nicht zwingend, es existieren auch reine Konzertmitschnitte ohne weitere Kontextualisierungen, die nur auf den Auftritt selbst fokussieren. Die Zuschauer bekommen im Konzertfilm direkt, unmittelbar und dicht die Musiker ins Blickfeld und erleben so das Konzertereignis aus Perspektiven, die in der realen Erfahrung so niemals möglich gewesen wären. Der Konzertfilm lebt von der Intensität und Spannung der Performance und arbeitet mit abwechselnden Nah-, Total- und Großaufnahmen, die die Musiker in ihren schweißtreibenden Aktionen und Virtuosität beobachten. Dadurch wird der Filmzuschauer in einen unmittelbaren Erlebnisraum gezogen. Konzertfilme ermöglichen die Teilhabe an vergangenen oder gegenwärtigen Musikereignissen und haben dadurch auch eine erinnerungskulturelle wie vergemeinschaftende Dimension. Meist leben derartige Konzertmitschnitte von der Selektivität des Filmbildes, das gesamte Bühnengeschehen, wie es sich in der realen Erfahrung darbietet, ist filmisch über einen längeren Zeitraum kaum spannungsvoll inszenierbar. Daher ist es in einem Konzertfilm wichtig, Abwechslungen zu schaffen. Die Rhythmisierung der Schnitte setzt Bild und Musik oftmals in ein entsprechendes Verhältnis und sorgt so für Dynamik. Die Musik ist intradiegetisch und der „äußeren Realität“ entnommen: Sie entspricht synchron dem im Filmbild Dargestellten.

Die historisch wichtigsten Konzertfilme sind sicherlich Die Konzertfilme Woodstock (1970) von Michael Wadleigh und Monterey Pop (1968) von D. A. Pennebacker entstanden im Rahmen wichtiger Rockfestivals Ende der 1960er Jahre. Einen außergewöhnlichen Konzertfilm stellt beispielsweise auch Awesome:I fuckin‘ shot that (2006) von den Beastie Boys dar, der aus der Perspektive einiger Fans gedreht wurde: Hierzu wurden vor dem Konzert Handkameras an Besucher verteilt, die an verschiedenen Plätzen dem Konzert beiwohnten. So entstand eine Collage aus nahezu 50 verschiedenen Positionen. Ebenso ungewöhnlich ist ein Konzertmitschnitt der Punkrock-Band The Cramps: Live at Napa State Mental Hospital (2003), der einen Liveauftritt in einer psychiatrischen Klinik von 1978 dokumentiert („a benchmark in public rock“, wie aus auf dem Cover heißt), bei dem sich die Grenzen zwischen Musikern und Zuschauern im Verlauf des Konzerts zunehmend verschieben. Diese Art der politisierten Live-Performance pflegte bereits Johnny Cash, der einen Auftritt At Folsom Prison (1968) ebenfalls als Konzertmitschnitt veröffentlichte. Auch der Bluesmusiker B. B. King spielte 1972 ein Konzert im berühmt-berüchtigten New Yorker Sing Sing-Gefängnis, das mit den Insassen wie mit den Filmemachern Harry Wiland und David Hoffmann musikfilmdokumentarisch festgehalten wurde: B. B. King at Sing Sing Prison (2008).

 2. Tourfilm

Tourfilme haben ähnlich wie Konzertfilme musikalische Liveauftritte zum Gegenstand, jedoch dokumentieren sie zeitlich ausgedehnter auch den gesamten Ablauf einer Konzerttournee. Liveaufnahmen kommen oftmals nur am Rande und in selektiven Ausschnitten vor. Dynamik und Bewegung ist darin nicht nur ein Element der eigentlichen Konzertauftritte, sondern bereits in der Struktur des Reisens angelegt. Der Tourfilm bedient in seiner dramaturgischen Form ein übergeordnetes Genre, nämlich das des Roadmovies. Geschriebene Roadmovies gibt es vermutlich seit Homers Odyssee. Eine andere Literatur, zweieinhalbtausend Jahre später, auf die sich viele Filmemacher stützen, ist die der Beatniks und besonders die des Jack Keruac. Sein Buch On the Road ist das, wenn auch dem Jazz verbundene, doch den Rock´n`Roll puschende Buch einer Generation der Drifter. Ist es bei Keruac das ziellose Herumstreifen durch die Staaten, so ist es bei Tourfilmen in der Regel doch der durch die vorfilmische Realität vorgegebene Verlauf einer im Vorfeld gebuchten Tournee, einer Band oder eines einzelnen Musikers. Allerdings stellt beispielweise der Film Step across the boarder (1990) von Nicolas Humpert und Werner Penzel, der den Musiker Fred Frith quer über den Globus, scheinbar ohne festen Plan folgend, auf Musikerfreunde und im Spiel mit der Natur auf eine essayistische Weise zeigend porträtiert, eine seltenere Form des Musikers unterwegs dar.

Einen Schub erhielt der Tourfilm – wie auch die gesamte dokumentarische Filmarbeit – in den 1960er Jahren durch die neuen technologischen Entwicklungen der tragbaren 16mm Kamera und der Möglichkeit, den Ton synchron aufzuzeichnen (Nagra).

Wie bereits zuvor beschrieben, haben sich viele renommierte Filmemacher des Subgenres Musikdokumentarfilm bedient, um ihre musikalischen Vorlieben mit ihrer Profession, dem Filmemachen, verbinden zu können. So auch Jim Jarmusch bei seinem Film Year of the Horse (1997) über eine Welttournee von Neil Young mit seiner Stammband Crazy Horse im Jahre 1996. Jarmusch verwebt in seinem Film Konzertaufnahmen der 1996er Tour mit Foundfootageaufnahmen früherer Touren in Backstage-Bereichen und Hotels. Ein weiteres strukturierendes Element des Films sind Gespräche mit den vier Bandmitgliedern in einem undefinierbaren Raum (es könnte eine Küche sein, es könnte aber ebenfalls ein Backstage-Raum mit Waschmaschine sein). Er benutzt neben 16mm Technik, die Lofi-Ästhetik von Hi8 und Super8, um so der Rauheit und des Noise der Musik Neil Youngs nahe zu kommen. Wesentliche und immer wieder auftauchende Elemente bei Tourfilmen sind Interviews mit Fans, Fahrtbilder, Szenen in Bussen, Bahnen, Autos, Flugzeugen oder an Raststätten, Ein- und Auspacken von Instrumenten und Gepäck und Soundchecks. Vieles davon findet bei einem Konzertfilm (der lange Zeit nicht als künstlerischer Film betrachtet wurde) nicht statt und ist deshalb in Konzertfilmen auch nicht zu sehen. Die dramaturgische Struktur richtet sich an der dramatischen Struktur des Ereignisses selbst aus. Es gibt einen klaren Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende.

3. Produktionsprozess, Studiofilm

Ähnlich dem Tour- und Konzertfilm, erfüllen Filme über Herstellungsprozesse eine für den Dokumentarfilm ideale Vorgabe des dramaturgischen Ablaufes. Die Dreiaktstruktur ist bereits im Sujet angelegt. Herstellungsprozesse im Musikdokumentarfilm beschäftigen sich mit dem Bau von Instrumenten, öfters jedoch mit der Produktion eines Tonträgers (oder nur eines einzelnen Songs, wie bei Jean-Luc Godards One Plus One (1968)). Eine Band, ein(e) MusikerIn geht ins Studio, um eine neue Platte aufzunehmen und diese anschließend zu promoten. Oftmals spielen hierbei die ökonomischen Bedingungen künstlerischer Arbeit eine große Rolle. Die Spannbreite ökonomischer Bedingungen einer Tonträgerproduktion ist durch die herausragenden Filme On/Off The Record (2006) über die Entstehung der fünften Notwist Studioproduktion und Some Kind of Monster über die Entstehung der Metallica Studioproduktion St. Anger am besten zu verdeutlichen. Bei On/Off The Record handelt es sich um einen Film von Jörg Adolph über die Aufnahmen der Gruppe Notwist zu ihrem 2002er Album Neon Golden. Adolph, wie auch Joe Berlinger und Bruce Sinofsky bei Some Kind of Monster, arbeiten im Direct Cinema-Verfahren, d.h. sie selbst führen keine Interviews mit den Protagonisten und versuchen generell auf zusätzliche Inszenierungen für die Kamera zu verzichten. Beide Filme passen sich dem Modus der jeweiligen Band auch in der Strukturierung und Aufmachung der filmischen Erzählung an. So wird bei Some kind of Monster zu Beginn des Films über Texttafeln in den bereits vorhandenen Megaerfolg der Band eingeführt, um die Fallhöhe des Kommenden zu erhöhen. Im Laufe der Exposition, die den Film von Hinten aufrollt (Journalisten wird das neue Album in einer Prelistening Session vorgeführt) gibt es auch einen rasanten Zusammenschnitt des Songs Seek and Destroy anhand einer chronologischen Reihung von Performances vom kleinen Club bis zum Megaevent vor Massenpublikum zu sehen.

Das Filmen von Produktionsprozessen stellt auch gleichzeitig eine historische Dimension dokumentarfilmerischen Schaffens dar. Egal, ob die Filme Erich Langjahrs über die Herstellung von Käse im schweizerischen Sennenland, die kleinen dokumentarischen Beiträge der Sendung mit der Maus nach dem Motto, “wie macht man denn eigentlich…“, oder das Bauen eines Futtersilos in Klaus Wildenhahns In der Fremde (1967), Arbeit und Handwerk, das Beobachten von Produktionsvorgängen war von Beginn der Filmgeschichte ein wichtiges Sujet. Bei der Arbeit, bei einer Tätigkeit vergessen sich die Menschen; sie sind zu sehr auf ihr Tun fixiert, als das sie sich der Kamera bewusst werden könnten.

4. Biopics, biographischer Musikdokumentarfilm

Biopics sind sowohl fiktive wie auch dokumentarische Musikfilme, die das Leben bekannter SängerInnen oder Bands entwicklungs- und lebensgeschichtlich rekonstruieren. Obwohl der Filmstoff reale Grundlagen hat, ist er in eine fiktive Narration eingebunden. Biopics mit Spielfilmcharakter arbeiten mit Schauspielern und sind in ihrer thematischen Gestaltung relativ frei. Daher interessieren diese im Zusammenhang mit Musikdokumentarfilmen nur am Rande.

Biographische Musikdokumentarfilme sind an einzelnen SängerInnen und Bandgeschichten orientiert, sie haben eine auf die MusikerInnenbiographie orientierte Perspektive. Während in Einzeldarstellungen eine bestimmte Person und deren musikalische Entwicklung im Vordergrund stehen, sind es bei Bandbiographien die biographisch verbindenden Elemente mehrerer Lebensgeschichten. Als Quellen der Filmdarstellung dienen Fotografien und Archivaufnahmen, die oftmals durch kontrastierende Interviews mit Familienangehörigen, Freunden und Bekannten sowie weiteren Weggefährten ergänzt werden. Die dokumentarische Rekonstruktion hängt im hohen Maße davon ab, ob die betrachtete(n) Person(en) noch leben oder nicht. Die Filmmusik ist sowohl als „innere“ wie „äußere“ Realität existent: Als „äußere“ Realität etwa bei historischen Liveaufnahmen, als „innere“ Realität zur klanglichen Untermalung, Spannungsbildung und als eigener Assoziationsraum, der oftmals auf das musikalische Werk der im Mittelpunkt stehenden Musiker zurückgreift. Viele biographische Musikdokumentarfilme orientieren sich an bekannten traditionellen Erzählmustern von Lebensgeschichten („von der Wiege bis zur Bahre“), an Chronologien und an Erfolgsmustern des Auf- und Abstiegs. Oft werden der Innovationscharakter und damit die Biographiewürdigkeit herausgestellt. Erklärungen werden weniger visuell als sprachlich-diskursiv gegeben, das Filmbild übernimmt dann untergeordnete illustrative Funktionen. Zwei biographische Musikdokumentarfilme mit unterschiedlichen Herangehensweisen zu ein und derselben Person finden sich etwa bei Lemmy von Motörhead, einmal porträtiert vom Hamburger Filmemacher Peter Sempel (2002), ein anderes Mal von Greg Olliver und Wes Orshoski (2011). Beide Filme haben denselben Titel, beide fokussieren das Musiker-Leben von Lemmy Kilmister, Gründer, Bassist und Sänger der Band Motörhead. Während jedoch der jüngere Film mit viel Interview- und Archivmaterial einen klassischen biographischen Musikdokumentarfilm repräsentiert, der das Informationsbedürfnis der Zuschauer bedient, arbeitet Peter Sempel eher visuell-assoziativ und zeigt Lemmy porträtierend in endlos erscheinenden Alltagssituationen, trinkend oder spielend, mal gereizt, mal verschlossen, jedoch ohne lineare oder kausale Erklärungen, ohne kontextuelle Informationen zu geben.

 5. Genrefilm (Musikkultur)

Musikdokumentarische Genrefilme behandeln die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte von Musikkulturen. Sie rekonstruieren die Ursprünge und Ausbreitungen von Szenen und Kulturen und sind deshalb immer historisch ausgerichtet. Es handelt sich bei Genrefilmen gewissermaßen um eine „Nabelschau“. Neben Protagonisten und Gründungsfiguren tauchen weitere Musikexperten auf, die frühe Anfänge, Motive und Ursachen des Entstehens von Musikkulturen kraft Zeitzeugenschaft und eigener Aktivitäten (v)erklären. Alle Genrefilme spielen mit einem Ursprungsmythos, der Kreativität, Dynamik, Idealismus und die Aura des Neuen und Unbekannten in einer Metanarration vereinigt. Meist handelt es sich um die Erfolgsgeschichte von früheren Subkulturen, die zum Zeitpunkt der Filmproduktion zumindest teilweise ein gewisses Renommee haben. Jedoch finden sich auch Darstellungen zu Subgenres oder Regionalkulturen größerer Musikkulturen, so etwa zum deutschen Hip Hop in In the Lab – Der deutsche Hip Hop Dokumentarfilm (2009) von Engin Altinova, oder zum Thrash Metal als Spielart des Heavy Metal in Get Thrashed – The Story of Thrash Metal (2008) von Rick Ernst. Umfassendere und allgemeine Dokumentationen zu den großen Jugend- und Musikkulturen finden sich für den Heavy Metal in Metal: A Headbangers Journey (2005) und Global Metal (2008) als dessen globalisierte Fortsetzung von Sam Dunn, als Alternative Heavy Metal: Louder than Life (2007) von Dick Carruthers. Der Punk wird relativ umfassend in Punk Attitude (2007) von Don Letts behandelt. Techno-Kulturen sind das Thema der Genrefilme We call it Techno (2008) von Maren Sextro und Holger Wick wie auch The History of Electronic Music (2006) von Torsten Maasen und Arndt Pecher. Für den Hip Hop gibt es keinen aktuellen musikdokumentarischen Genrefilm, der global und allgemein das Phänomen betrachtet. Frühe semidokumentarische Filme wie Wild Style (1982) von Charlie Ahearn, Beat Street (1984) von Harry Belafonte sind frühe Formen der filmischen Darstellung, sie sind jedoch im engeren Sinne keine Musikdokumentarfilme, weil sie mit Bezug auf die außerfilmische Wirklichkeit arbeiten, in ihrem Darstellungsrahmen aber fiktional sind. Im Hip Hop gibt es vielmehr zahlreiche Einzeldarstellungen, oder, wie angedeutet, lokale Szenebetrachtungen wie Here We Come (2007) von Nico Raschick zur Breakdance-Kultur in der ehemaligen DDR, der dokumentarisch angelegt ist. Für den Blues, der nicht als Jugendkultur gilt, liegt mit The Blues: Collector‘s Box Edition (2004) von Martin Scorsese und anderen eine umfassende Dokumentation vor.

Genrefilme arbeiten vorwiegend mit Interviews, filmischen Archivaufnahmen und Fotografien. Die Musikentwicklung wird von ihren Wurzeln bis in die Gegenwart in Bild und Ton betrachtet, illustriert und systematisiert. Es handelt sich wie in vielen historischen Dokumentationen um medial komplexe Artefakte. Genrefilme diskursivieren ihren Gegenstand in Bild, Sprache und Musik und erheben hegemoniale Deutungsansprüche, die durch die Gestaltung der Filme und durch die hinzugezogenen Protagonisten verankert wird. Systematisierungen in der musikdokumentarischen Rekonstruktion sind an einem chronologischen Zeit- und Themenstrahl orientiert. So rekonstruiert Sam Dunns Metal (2005), eine für einen Musikdokumentarfilm ungewöhnliche große und aufwendige Produktion, alle relevanten Aspekte des Heavy Metal, wie sich den einzelnen Kapiteln entnehmen lässt: So beginnt der Film mit den Ursprüngen des Heavy Metal, geht auf Sound und die musikalischen Wurzeln ein, behandelt das Umfeld, die Fans, Kultur, Zensur, Geschlechtsidentifikation und Sexualität, Religion und Satanismus, sowie schließlich Tod und Gewalt. Damit sind sämtliche Themen, die den Heavy Metal als Musikkultur wie auch die gegen ihn erhobenen Vorurteile betreffen, verarbeitet.

 6. Ethnographischer Film

Der ethnographische Musikdokumentarfilm beschäftigt sich mit dem kulturellen Umfeld von Musikkulturen im weitesten Sinne und weist daher Ähnlichkeiten mit dem Genrefilm auf. Musik steht nicht zwingend im Vordergrund und spielt oftmals nur am Rande eine Rolle, jedoch sind Musikkulturen sein Gegenstand. Der regionale und lokale Bezugsrahmen wie im chinesischen Punk- und Rockdokumentarfilm Bejing Bubbles (2008) von Susanne Messmer und George Lindt ist stark ausgeprägt oder steht im Mittelpunkt der Betrachtung. Bejing Bubbles beschreibt den subkulturellen Kampf um Anerkennung chinesischer Punk- und Rockanhänger und die Bedeutung dieser Musikkultur für die Jugend.[8] Im ethnographischen Musikdokumentarfilm geht es so weniger um die historische Aufarbeitung von Musikkulturen als um spezifische Ausprägungen von Musikkulturen in einem örtlich begrenzten Kontext. Schon der Titel Global Metal (2008) von Sam Dunn deutet den ethnographischen Anspruch dieses Films an. Sam Dunn reist nach seinem musikhistorischen Genrefilm Metal: A Headbangers Journey in verschiedene Länder wie China, Indien, Brasilien, Israel u. a., um den Einfluss des Heavy Metal auf die regionalen und lokalen Jugendkulturen zu zeigen. Einen weiteren ethnographischen Blick auf die Musikkultur des Heavy Metal wirft etwa der von der südkoreanischen Regisseurin Sung Hyung Cho produzierte Film Full Metal Village (2006) über das lokale, mittlerweile überregional bekannte Metal-Festival in Wacken. Dieses spielt allerdings nur am Rande eine Rolle, vielmehr stehen die Bewohner des kleinen norddeutschen Dorfes und ihre Befindlichkeiten, Einstellungen und auch Aktivitäten rund um dieses Musikspektakel im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. An diesem Beispiel verdeutlicht sich exemplarisch, was der interkulturelle Austausch, der „verfremdende Blick“ der Ethnographie in seiner filmischen Konkretion zu leisten in der Lage ist. Ein ähnlich orientierter ethnographischer Heavy Metal-Film behandelt das lokale Vertriebsunternehmen Nuklear Blast Records, den größten unabhängigen Anbieter von Heavy Metal Produkten, im schwäbischen Donzdorf: Heavy Metal auf dem Lande (2006) von Andreas Geiger zeigt das Miteinander von dörflicher Idylle und globalisierter Heavy Metal-Szene.

Eine Musikdokumentation zwischen Tourfilm und ethnographischem Film stellt Vagabundenkarawane (1979) von Werner Penzel dar. In dichten und mit wenig Sprache auskommenden Filmbildern wird die musikalische Reise der Krautrock-Band Embryo von München nach Indien gezeigt. Auf ihrem Weg begegneten ihnen unterschiedliche lokale Musikkulturen, mit deren Musikern sie lange spirituelle Musiksessions abhielten, die in psychedelischen Bildern festgehalten werden. Der Film macht aber gleichzeitig auch die Strapazen und Schwierigkeiten der Reise deutlich.

Nicht mit einem kulturellen Kontrast, sondern mit einer nationalen Lokalisierung verschiedener Klangwelten arbeitet der ethnographische Musikdokumentarfilm UR-Musig (1993) von Cyrill Schläpfer. Hier werden die musikalischen Wurzeln von Volksmusik der Innerschweiz sowie des Appenzellerlandes gezeigt. Natur, Klang, Mensch und Tier werden dabei in einen harmonischen Einklang gebracht.

7. Fanfilm

Der Fanfilm ist ein Musikdokumentarfilm über Fans im musikalischen Kontext. Die Musik spielt nur am Rande eine Rolle, im Zentrum stehen vielmehr die Anhänger von Musikkulturen oder das weitere Umfeld. Filmmusik ist kein zwingendes Element des Fanfilms. Ein Klassiker (und von Nirvana-Sänger Kurt Cobain hochgeschätzter) Fanfilm mit nur 17 Minuten Laufzeit ist Heavy Metal Parking Lot (1986) von Jeff Krulik und John Hayne. In diesem kurzen Fanfilm werden die Zuschauer eines Judas Priest Konzerts kurz vor Beginn der Show auf einem Parkplatz des Veranstaltungsortes interviewt. Der Reiz dieses Films besteht in der Selbstinszenierung der teilweise recht angetrunkenen Fans vor der Kamera, die stellenweise die Regie übernehmen und sich vor der Kamera auf ihre Art und Weise stilisieren. Der Film zeigt aber auch die Selbstironie, die im Ausflippen der Heavy Metal-Fans gleichsam mitschwingt. Musikalisch unterlegt wird Heavy Metal Parking Lot mit Titeln der Band Judas Priest, die am Ende kurz in ihrem Live-Auftritt gezeigt werden.

Weitere, als Fanfilme zu bezeichnende Musikdokumentationen sind Vinyl (2000) von Alan Zweig und Groupies (1970) von Ron Dorfman und Peter Nevard. In Vinyl spielt Musik nur als Aufnahme auf einer LP eine Rolle. Es geht nicht um die Musik selber, sondern um die Manie des LP-Sammelns und was SammlerInnen im Innersten bewegt. Porträtiert werden Fans und ihre Marotte, riesige LP-Sammlungen aufzubauen. Groupies dagegen ist ein früher Fanfilm über zumeist weibliche Obsessionen. Groupies behandelt das Thema weibliche Fans, denen es um nichts anderes geht, als ihre Musikidole ins Bett zu bekommen. Als Lifestyle des Rock gehören sie zum festen Ensemble im Tourbus und im Backstage-Bereich. Der Film zeigt und interviewt so berühmte Groupies wie Cynthia Plaster Caster.

Ausblick

Weitere dokumentarfilmische Idealtypen ließen sich bilden. So haben wir den Essayfilm, der einen offenen, freien und in seinem Zugang zur nichtfilmischen Wirklichkeit ungewöhnlichen Umgang mit dem Thema Musikkulturen sucht, nicht behandelt. Ebenso wenig haben wir den Bereich der Mockumentarys und Pseudo-Dokumentationen untersucht, der mit dem Darstellungsformat Dokumentarfilm lediglich spielt und diesen in seiner Form aufbricht. Auch ließe sich möglicherweise von einem Idealtyp des Instrumentenfilms sprechen. Alle hier getroffenen Unterscheidungen stellen erste Versuche dar, der Hybridität des Musikdokumentarfilms gerecht zu werden und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Musikdokumentarfilme sind ein heterogenes Subgenre der Gattung Dokumentarfilm und Musikfilm, das sich aufgrund seiner inneren Vielfältigkeit, aber auch aufgrund seiner vom fiktiven Film differenten Darstellungsformen einer genaueren Auseinandersetzung lohnt, auch wenn die Grenzziehungen nicht immer scharf getroffen werden können und überdies im historischen Verlauf variieren können. Musik und ihre Kulturen stehen im Mittelpunkt. Der Reiz des Musikdokumentarfilms ist die Herstellung einer Beziehung zwischen Bild und Ton, ohne den außerfilmischen Bezug aus dem Auge zu verlieren. Das Motiv der Bewegung und Dynamik scheint hier ein verbindendes strukturelles Moment zu sein. Anders als im Musik(spiel)film, ist der Musikdokumentarfilm an eine nichtfilmische (behauptete) Wirklichkeit referentiell gebunden, die auf der anderen Seite vom Zuschauer als solche erkannt oder zumindest akzeptiert wird. Damit gewähren Musikdokumentarfilme „authentische“ und „reale“ Einblicke in Bereiche von Musikkulturen, die ansonsten unsichtbar blieben. Sie befriedigen voyeuristische Bedürfnisse von Fans und suggerieren, „live“ dabei zu sein und an Musikkulturen teilzuhaben. Das beobachtende Element von Entstehungs- und Entwicklungsprozessen spielt eine tragende Rolle. Dies schließt jedoch fiktionalisierende Eingriffe hin zur Abstraktion nicht aus. Während im Musik(spiel)film der fiktive narrative Plot um einen Star (verkörpert wiederum durch einen weiteren „Star“, dem Schaupielstar), einer „Lichtgestalt“ mit einer dramatischen Story, im Mittelpunkt steht (vgl. Pawella 2008), setzt sich der Musikdokumentarfilm den Widrigkeiten, Unvorhersehbarkeiten und Diskontinuitäten realer Prozesse aus. In historischen Darstellungsformen werden dem Zuschauer komplexe mediale Rekonstruktionsversuche geboten, die auf Archivmaterial, Interviews, Fotografien und anderen realen Devotionalien beruhen, Damit erfüllen Musikdokumentarfilme vor allem sozialkommunikative und informative Aufgaben, ohne jedoch das ästhetisch-gestaltende Element zu vernachlässigen. Das Element der Teilhabe, Realbeobachtung und teilhabenden Integration des Zuschauers („suture“) scheint gegenüber dem Musik(spiel)film ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu sein. Die Differenzierung verschiedener Formate des Musikdokumentarfilms konnte zeigen, dass eine sinnvolle Unterscheidung zwischen Musikfilm und Musikdokumentarfilm möglich ist. Unbenommen der theoretischen Auseinandersetzungen und Zweifel am Status dokumentarfilmischer Bilder, scheinen diese in kulturellen Rezeptionskontexten als Kommunikationsform zu „funktionieren“; dies lässt sich aufgrund der immensen Produktionsvielfalt musikdokumentarischer Filme zumindest vermuten. Vor allem aufgrund seines anders gearteten Herangehens und der damit einhergehenden Filmästhetik scheint eine derartige Unterscheidung hilfreich, um Musikdokumentationen aus dem Bereich des allzu allgemein gefassten Genres Musikfilm zu entlassen und in den Bereich des Dokumentarfilms überzuführen. Zu unterschiedlich erscheinen hier etwa dokumentarische „Live-Aufnahmen“ von durchdramaturgisierten Musikfilmen. Damit lassen sich die hier diskutierten Unterscheidungen in einem erweiterten Kontext in die derzeit intensiv geführten Auseinandersetzungen um den Dokumentarfilm verorten. Die kurze Darstellung einer Theorie des Dokumentarischen konnte zeigen, dass die kommunikativen Ausgangsbedingungen von Musikdokumentarfilm und Musikfilm sowie deren Rezeption gänzlich andere sind. Was allgemein für Dokumentarfilme gilt, gilt insbesondere auch für Musikdokumentarfilme. Deswegen, und aufgrund einer wachsenden Vielfalt musikdokumentarischer Themenfelder scheint uns eine weitere Differenzierung für die mediale Diskussion musikdokumentarischer Formate angezeigt.

 

Literatur

Bücher

Arriens, Klaus (1999): Wahrheit und Wirklichkeit im Film: Philosophie des Dokumentarfilms, Würzburg: Könighausen & Neumann.

Beyer, Michael (2010): Im Dialog mit der Musik. Ästhetische Kategorien der Konzertaufzeichnung, in: Peter Moormann (Hrsg.) (2010); Musik im Fernsehen: Sendeformen und Gestaltungsprinzipien, Wiesbaden: VS Verlag, S. 147-154.

Brandstätter, Ursula (2008): Grundfragen der Ästhetik: Bild-Musik-Sprache-Körper, Köln, Weimar, Wien: Böhlau.

Curtis, Deborah (1996): Aus der Ferne: Ian Curtis und Joy Division. Berlin: Die Gestalten.

Custodis, Michael (2010): Die Musikdokumentation: Typologische Bemerkungen, in: Peter Moormann (Hrsg.) (2010); Musik im Fernsehen: Sendeformen und Gestaltungsprinzipien, Wiesbaden: VS Verlag, S. 67-82.

Ehrenstein, David; Reed, Bill (1982): Rock on Film, London: Virgin Books.

Eisenstein, Sergej M.; Pudowkin, Wsewolod I.; Alexandrow, Grigorij W. (2003 [1928]): Manifest zum Tonfilm, in: Franz-Josef Albersmeier (Hrsg.) (2003): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam jun., S. 54-57.

Festinger, Leon (1957): A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford: University Press.

Gerle, Jörg (2010): Der Musikclip im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit, in: Peter Moormann (Hrsg.) (2010); Musik im Fernsehen: Sendeformen und Gestaltungsprinzipien, Wiesbaden: VS Verlag, S. 135-146.

Guynn, William Howard (2006): Der Dokumentarfilm und sein Zuschauer (1980/90), in: Eva Hohenberger (Hrsg.) (2006): Bilder des Wirklichen: Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk,  S. 240-258.

Hattendorf, Manfred (1996): Dokumentarfilm und Authentizität: Ästhetik und Pragmatik einer Gattung, Konstanz: UVK.

Hickethier, Knut (2007): Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart: J. B. Metzler.

Hohenberger, Eva (2006): Dokumentarfilmtheorie: ein historischer Überblick über Ansätze und Probleme, in: Eva Hohenberger (Hrsg.) (2006): Bilder des Wirklichen: Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk, S. 9-33.

Hohenberger, Eva (1988): Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm. Ethnographischer Film. Jean Rouch, Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms.

Kiefer, Bernd; Schössler, Daniel (2004): (E)motion Pictures: Zwischen Authentizität und Künstlichkeit. Konzertfilme von Bob Dylan bis Neil Young, in: Bernd Kiefer; Marcus Stiglegger (Hrsg.) (2004): Pop & Kino: Von Elvis zu Eminem, Mainz: Ventil, S. 50-65.

Koebner, Thomas (2010): Der singende Mensch vor der Kamera – Notizen zum Opernfilm, in: Peter Moormann (Hrsg.) (2010); Musik im Fernsehen: Sendeformen und Gestaltungsprinzipien, Wiesbaden: VS Verlag , S. 155-184.

Kreuzer, Anselm C. (2009): Filmmusik in Theorie und Praxis, Konstanz: UVK.

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Maas, Georg; Schudack, Georg (2008): Der Musikfilm: Ein Handbuch für die pädagogische Praxis, Mainz et. al: Schott.

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Moormann, Peter (Hrsg.) (2010); Musik im Fernsehen: Sendeformen und Gestaltungsprinzipien, Wiesbaden: VS Verlag.

Pawella, Frank (2008): Lichtgestalt und tragischer Held: Inszenierungen und Ikonographien des Popstars im Musikfilm, Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller.

Rhodes, Gary D.; Springer, John Parris (ed.) (2006): docufictions: Essays on the Intersection of Documentary and Fictional Filmmaking, Jefferson, North Carolina, and London: McFarland & Company.

Rühling, Lutz (2008): Fiktionalität und Poetizität, in: Heinz Ludwig Arnold; Heinrich Detering (Hrsg.) (2008): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München: DTV, S. 25-51.

Schneider, Norbert Jürgen (1989): Handbuch Filmmusik II: Musik im dokumentarischen Film, München: Ölschläger.

Schneider, Norbert Jürgen (1986): Handbuch Filmmusik: Musikdramaturgie im Neuen Deutschen Film, München: Ölschläger.

Struck, Jürgen (1985): Rock Around the Cinema: Spielfilme/Dokumentationen Videoclips, Reinbek: Rowohlt.

Voullième, Helmut (1998): „…and Rock goes Online and CD-ROM – Rockmusik und interaktive Medien, in: Dieter  Baacke (Hrsg.) (1998): Handbuch Jugend und Musik, Opladen: Leske + Budrich, S. 421-438.

Weibel, Peter (1987): Von der visuellen Musik zum Musikvideo, in: Veruschka Bódy; Peter Weibel (Hrsg.) (1987): Clip, Klapp, Bum: Von der visuellen Musik zum Musikvideo, Köln: DuMont, S. 53-164.

 

Filme

196 BPM (2003)

All Tomorrow’s Party (2009)

Awesome:I fuckin‘ shot that (2006)

B. B. King at Sing Sing Prison (2008)

Beat Street (1984)

Bejing Bubbles (2008)

Control (2007)

Death Metal: A Documentary (2004)

Der Blaue Engel (1930)

Devil Got My Woman Blues At Newport (1966)

Der Wilde (1953)

Die Saat der Gewalt (1955)

…denn sie wissen nicht, was sie tun (1955)

Don’t Look Back (1967)

Full Metal Village (2006)

Get Thrashed: The Story of Thrash Metal (2008)

Gimme Shelter (1970)

Global Metal (2008)

Great Balls of Fire (1989)

Groupies (1970)

Heavy Metal auf dem Lande (2006)

Heavy Metal: Louder Than Life (2006)

Heavy Metal Parking Lot (1986)

Here We Come (2007)

I’m Not There (2007)

In der Fremde (1967)

In the Lab – Der deutsche Hip Hop Dokumentarfilm (2009)

Jerry Lee Lewis – The Story of Rock‘n Roll (2003)

Johnny Cash: At Folsom Prison (1968)

Joy Division (2007)

Lemmy (2002)

Lemmy (2011)

Metal: A Headbangers Journey (2005)

MC5: Kick Out the Jams (2005)

Moonwalker (1987)

Monterey Pop (1968)

One Plus One (1968)

On/Off The Record (2006)

Punk Attitude (2007)

Richard Wagner. Ein kinematographischer Beitrag zu seinem Lebensbild (1913)

Slide Guitar Ride (2005)

Some Kind of Monster

Step across the boarder (1990)

St. Louis Blues (1929)

Such Hounds, Such Hawks: Scenes From The American Hard Rock Underground (2009)

The Blues: Collector‘s Box Edition (2004)

The History of Electronic Music (2006)

The Cramps: Live at Napa State Mental Hospital (2003)

The Jazz Singer (1927)

This is Spinal Tap (1984)

Thrash in Altenessen  (1989)

Until The Lights Takes Us (2008)

UR-Musig (1993)

Vagabundenkarawane (1979)

Vinyl (2000)

Walk the Line (2005)

We Call It Techno (2008)

Wild Style (1982)

Woodstock (1970)

Year of the Horse (1997)

 

Musiksendungen

Beat-Club (1965-1972).

Disco (1971-1982)

Formel Eins (1983-1987)

Hitparade (1969-2000)

Musikladen (1972-1984)

Top of the Pops (BBC) (1964-2006)

 

 

Onlinequellen

www.plexifilm.com. (7.6.2011).

www.filmmusik.uni-kiel.de/index.php) (7.6.2011).

www.youtube.com/watch?v=JpVCqXRlXx4. (7.6.2011).

www.redhotjazz.com/stlouisblues.html. (7.6.2011).

www.rockpopmovies.de(10.10.2011)



[1] An der Universität Kiel wird zurzeit im Bereich der Kieler Gesellschaft für Filmmusikforschung an einer Online-Enzyklopädie zu Rockumentaries gearbeitet, deren Umfang ständig wächst (vgl. http://www.filmmusik.uni-kiel.de/index.php) (7.6.2011). Als Online-Zeitschrift stellt „Rock and Pop in the Movies“ Musik(dokumentar)filme in den Mittelpunkt des Interesses.

[2] Siehe www.plexifilm.com. (7.6.2011).

[3] Control basiert vor allem auf der Auto-/Biographie von Deborah Curtis (1996).

[4] Einen ähnlichen typologischen Ansatz verfolgt Custodis (2010, S. 67-82), der davon ausgeht, dass sich in Musikdokumentarfilmen Kernelemente wiederfinden lassen, die das Dokumentarische als Dokumentarisches ausweisen. Dieses Ziel erreicht der Artikel, so muss kritisch angemerkt werden, allerdings in keiner Weise und verliert sich in am filmischen Einzelfall orientierten Betrachtungen.

[7] Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass Sam Dunn als Gesprächspartner überwiegend vor der Kamera agiert, während Dick Carruthers nicht im Film auftritt.

[8] Lano, Carolin: Beijing Bubbles. In: Rock and Pop in the Movies 1, 2011. URL: http://www.rockpopmovies.de Datum des Zugriffs: 10.10.2011.

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