Gremienarchive als Fundgrube der Rundfunkforschung

Eine Analyse der Zugangsmöglichkeiten

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Es gibt verschiedene Ansätze, um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Bundesrepublik als Spiegel der Gesellschaft zu deuten.1 Besonders offensichtlich ist die Verbindung von Politik, Gesellschaft und Rundfunk in institutionengeschichtlichen Arbeiten, die einen Fokus auf die Aufsichtsgremien legen, etwa der Rundfunk- und Fernsehräte. In verschiedener Hinsicht sind sie für Historiker besonders interessant.

Erstens aufgrund der exzellenten Überlieferung. In Rundfunkanstalten geht viel verloren. Selbst manche Wortmeldungen von „Tagesschau“-Sendungen – dem Premiumprodukt innerhalb der ARD – sind nicht überliefert. Gremienbüros sind jedoch fester Teil der Anstaltsbürokratie. Hier wird schriftlich regiert, verwaltet, abgeheftet, so dass über einen langen Zeitraum hinweg Schriftgut vorliegt. Die Aufbewahrungspraxis der Rundfunkarchive betrachtet oft erst Schriftgut ab der Direktorenebene und der Gremien als archivwürdig. Schriftliche Vorgänge kommen jenseits von Vertragstexten vor allem dann ins Spiel, wenn ungeahnte Schwierigkeiten auftreten oder eine Fernsehproduktion zu einem Politikum wird. Sobald höhere Ebenen – etwa Aufsichtsgremien wie Fernseh-Ausschuss und Rundfunkrat – involviert werden, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit auf schriftliche Überlieferung. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist somit das Alltagsgeschäft der Rundfunkanstalten schwieriger zugänglich als seine Störungen. Denn diese werden ebenso rundfunkintern diskutiert – etwa in Redakteursausschüssen und Rundfunkratssitzungen – als auch von der Presse aufgegriffen, was wiederum zu Diskussionen in den Aufsichtsgremien führt. Hinzu kommt die – bis auf wenige Ausnahmen – einfache Einsichtnahme in die Protokolle und die äußerst forschungsfreundlichen Fristen: Beim ZDF sind bereits acht Jahre zurückliegende Sitzungen für die Forschung einsehbar. Die anderen Anstalten gehen meistens von der üblichen Schutzfrist von 30 Jahren aus, Anträge auf Fristverkürzung werden jedoch oft wohlwollend genehmigt.

Zweitens hat man es bei der Lektüre der Protokolle nicht mit Nobodys, sondern mit gesellschaftlich relevanten Akteuren zu tun. In den Aufsichtsgremien der Rundfunkanstalten sitzen meistens spannende und oft auch nicht unumstrittene Persönlichkeiten: Minister, Parteichefs, Kirchen- und Verbandsvertreter. Ihr Wort hat Gewicht, sie versuchen Einfluss auf das Programm zu nehmen und spiegeln gesellschaftliche Entwicklungen wider. Waren nach dem Krieg etwa Heimatvertriebenenverbände besonders mächtig und erhielten auch Freikirchen feste Plätze in den Gremien, mussten diese in den letzten Jahren zugunsten von Umweltverbänden und Vertretern des Islam sowie von Schwulen und Lesben teilweise das Feld räumen.

Sich den Gremienprotokollen zu nähern, bedeutet, damit auch bestimmte Politikfelder und Personenkreise zu erschließen. So werden Rundfunkarchive auch für Nicht-Rundfunkhistoriker interessant. Eine Biographie über so manche Person des öffentlichen Interesses erhält durch Schriftgut aus den Rundfunkarchiven interessante Details. Die Historikerin Andrea Sinn ging etwa in ihrer Biographie über den langjährigen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde München, Hans Lamm, auf dessen Tätigkeit als engagierten Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks ein.2 Protokolle aus dem Archiv des Bayerischen Rundfunks, aber auch Lamms Schreiben an die BR-Funktionäre waren eine wichtige Quellengrundlage der Arbeit.

Drittens, um Grenzen des Sagbaren auszuloten. Dies auf Grundlage von Redaktionsakten zu versuchen ist ein schwieriges Unterfangen, da die Serienbildung oft durch das je nach Aktenbild unterschiedlich vorhandene Schriftgut in den Rundfunkarchiven verzerrt wird. Durch die teilweise lückenlose Überlieferung der Diskussionsprotokolle in den Aufsichtsgremien hat man jedoch einen idealen Korpus, um über einen längeren Zeitraum hinweg Kontinuität und Wandel zu untersuchen.

Wer zum Beispiel über die Integration von Gastarbeitern und Migranten forscht, dürfte in den Gremienprotokollen eine mentalitätsgeschichtliche Fundgrube entdecken: Politiker und Funktionäre fordern regelmäßig von den Rundfunkanstalten ein, ihrem Bildungs- und Integrationsauftrag nachzukommen. In der Art und Weise, wie darüber diskutiert wird, werden Grenzen des Sagbaren sichtbar sowie Konjunkturen und Wandel in Einstellungen zur Migrationspolitik deutlich. Anhand systematischer Untersuchungen von Rundfunkratsprotokollen lassen sich damit Grenzen des Sagbaren im Sinne der historischen Diskursanalyse erkennen.3 Laut dem Historiker Nicolai Hannig gibt „jede Debatte und jede Zeit […] teils stillschweigend, teils öffentlich bestimmte Regeln vor, was akzeptiert oder toleriert wird und was nicht“.4 Durch das „öffentliche und redaktionsinterne Ausloten von Sagbarkeitsgrenzen“ könnten „wichtige Erkenntnisse über den Wandel von Sprache und Argumentation“ gewonnen werden – in diesem Fall anhand von Gremiendiskussionen, ihrer Inhalte und ihrer Darstellungsweise.5 Da die Aufsichtsgremien eine Brücke zwischen öffentlichen und sendeinternen Diskussionen einnehmen, dürften deren Aufzeichnungen besonders ergiebig sein.

Viertens, weil die Protokolle oft Aufschluss über den Entstehungs- und Rezeptionskontext des Rundfunkprogramms geben. Warum genau ist die amerikanische TV-Serie „Holocaust“ 1979 in den Dritten Programmen erschienen und nicht im ARD-Hauptprogramm? In den Akten des WDR-Intendanten Friedrich-Wilhelm von Sell finden sich ein paar Hinweise. Aber erst die intensive Diskussion in den Rundfunkgremien gibt ein volles Bild. Warum erhitzten sich an dem Film „Shirins Hochzeit“ (1976) die Gemüter? Die Redaktionsakten und Pressetexte geben nur einseitige Einblicke. Ergiebiger sind die Akten, die sich im Rundfunkrat finden.

Erfahrungen von Forschern

Der Rundfunkhistoriker Konrad Dussel hat mit „Die Interessen der Allgemeinheit vertreten. Die Tätigkeit der Rundfunk- und Verwaltungsräte von Südwestfunk und Süddeutschem Rundfunk 1949–1969“ eine einschlägige Monographie zur Arbeit mit Gremienprotokollen vorgelegt.6 Er plädiert dafür, sich nicht nur auf die zentralen Plenarprotokolle der Rundfunk- und Verwaltungsräte zu beschränken, sondern auch die Ausschussprotokolle zu berücksichtigen. Den Protokollen sind oft Vorlagen und Konzepte beigelegt, die unabhängig vom Diskussionsverlauf ergiebig seien. Hinzu kommt die Korrespondenz zwischen den Gremienmitgliedern und den Rundfunkakteuren – meistens den Intendanten, Hörfunk- und Fernsehdirektoren sowie Chefredakteuren. Erst durch das Zusammenspiel dieser verschiedenen Akten würden die Protokolle kontextualisiert und ergiebig.

Viele Historiker haben die Erfahrung gemacht, enthusiastisch ein Archiv zu betreten und aufgrund weniger oder langweiliger Quellenfunde das Archiv enttäuscht zu verlassen. So warnt auch Konrad Dussel vor Desillusionierung. In der Regel seien die Protokolle enttäuschend, da es Ergebnisprotokolle seien, die knapp das Wesentliche zusammenfassen. Allerdings gibt es Ausnahmen: Verlaufsprotokolle, die Aufschluss über teils hitzige Diskussionen geben. Laut Dussel finden sich interessante Stellungnahmen und Differenzen manchmal in den Vorlagen oder Korrespondenzen der Gremienmitglieder.

Dussels Empfehlung lautet, Gremienprotokolle „zu allen Themen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sichten, da sie alle zentralen Entscheidungen in den Anstalten widerspiegeln. Selbstverständlich geschieht dies in sehr unterschiedlichem Maße. Und diese Unterschiede können bereits interessant sein, wenn man sie vor dem Hintergrund des eigentlich zu Erwartenden thematisiert: Manches, was man im Rückblick für brisant einstuft, war es zeitgenössisch anscheinend gar nicht, bei anderem ist es genau umgekehrt. Das kann auch schon einmal allzu gegenwartsbezogene Perspektiven korrigieren.“7

Der Erkenntniswert der Protokolle sei dort besonders hoch, „wo es zu Irritationen im Normalverlauf der Abläufe kommt – wenn Beschlüsse nicht im Sinne der Vorlagen gefällt werden oder Probleme von den Gremien (oder einzelnen Mitgliedern) thematisiert werden, die gar nicht auf der Tagesordnung standen. Dann fällt überproportional viel Papier an, aus dem viele Rückschlüsse gezogen werden können.“8

Als Desiderat auf dem Gebiet der institutionengeschichtlichen Rundfunkforschung sieht Dussel die Auseinandersetzung der öffentlich-rechtlichen Anstalten mit dem privaten Rundfunk. Besonders die Innensicht der Anstalten und Aufsichtsgremien sei hier noch nicht ausreichend beleuchtet. „Die 1980er insgesamt sind also das anstehende zentrale Thema“, postuliert Dussel.9

Ähnlich argumentiert die Historikerin Alina Laura Tiews, die mit einer Arbeit über Flucht und Vertreibung im Film und Fernsehen der DDR und der Bundesrepublik promoviert wurde und hier nicht nur auf die filmischen Artefakte, sondern auch auf den Kontext der Produktionen einging – und dabei die Aufsichtsgremien berücksichtigte.10 Besonders für Studien zum Parteienproporz und die Besetzung von Schlüsselpositionen bietet sich Tiews zufolge die Arbeit mit Gremienprotokollen an.

Tiews hat etwa Rundfunkrat- und Verwaltungsrat-Protokolle zum Fall des schlesischen Vertriebenenfunktionärs und Rundfunkjournalisten Herbert Hupka studiert. Laut Tiews wechselte Hupka 1957 vom Bayerischen Rundfunk zu Radio Bremen, wo er Programmdirektor wurde. Spannend war für Tiews zu erfahren, dass er bei Radio Bremen sogar als neuer Intendant gehandelt wurde. Auch werde in den Gremienprotokollen deutlich, dass Hupka nicht nur retrospektiv, sondern auch für die Zeitgenossen eine Reizfigur war: In den Gremien und in bestimmten Programmabteilungen brach aufgrund der Hupka-Berufung Streit aus. Hupka habe deshalb bereits 1958/59 Radio Bremen verlassen und wurde Berufspolitiker.11

Tiews empfiehlt, „Gremienprotokolle punktuell heranzuziehen, wenn sich ein ganz bestimmter Fall abzeichnet, den man überprüfen will. Sie sind keine guten Quellen, um ein Projekt zu beginnen. Dafür sind sie zu kleinteilig und oft auch zu weit weg vom eigentlichen Programm- und Redaktionsgeschehen.“12

Außer der nahezu lückenlosen Überlieferung lobt Tiews den „ereignishistorischen Detailreichtum“13 von Gremienprotokollen: „Wenn man Fragen zu ganz konkreten Abläufen und Streitfällen hat, sind die Protokolle gute Korrektive, weil sie gegebenenfalls verschiedene Positionen dokumentieren und helfen, Ereignisse chronologisch einzuordnen.“14 Bedauernswert sei, dass viele Protokolle Diskussionen nur in indirekter Rede paraphrasieren: „Man kann also nicht jede Debatte detailliert rekonstruieren. Oft hilft es ja aber schon, überhaupt belegen zu können, dass es eine Debatte gab. Dafür sind die Protokolle gut.“15 Wer sich für Programmgeschichte im engeren Sinn interessiert, werde von den Gremienprotokollen eher enttäuscht. Inhaltliche Diskussionen entzündeten sich vor allem an „Leuchtturmproduktionen“ wie etwa der amerikanischen TV-Serie „Holocaust“ oder an besonders kontroversen und politisch heiklen Stoffen.

Als rundfunkhistorisches Desiderat formuliert Tiews eine systematische Untersuchung der Einflussnahme bestimmter Organisationen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, etwa durch Kirchen, Vertriebenenverbände und Parteien. „Die Staatsvertragskrise des NDR Ende der 1970er etwa ist ein gutes Beispiel dafür, dass Parteienproporz sehr wohl eine Rolle für die Entwicklung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten spielte, einfach weil viele Gremienvertreter in zweiter Funktion auch Parteimitgliedschaften innehatten und sich dadurch politische Lager bilden konnten – und können“, argumentiert Tiews.16

Die „Bibel“ angehender Rundfunkhistoriker, der Sammelband „Das Gedächtnis des Rundfunks“17, enthält auch mehrere Beispiele, die vom rundfunkhistorischen Arbeiten mit Gremien berichten. So stellt die Historikerin Christina von Hodenberg eine Diskrepanz zwischen der Reaktion der Gremien und der Zuschauer auf die Serie „Ein Herz und eine Seele“ („Ekel Alfred“) fest. Nicht selten, schreibt Hodenberg, echauffierten sich „vor allem die Beiräte, in denen Vertreter der Parteien und gesellschaftlichen Organisationen (wie Kirchen, Vertriebenenverbände und Gewerkschaften)“ sitzen, über „Ekel Alfred“.18

Annegret Braun hat sich mit dem Frauenfunk des Bayerischen Rundfunks auseinandergesetzt. Hier hätten die Rundfunkratsprotokolle eine andere Perspektive vermittelt: „Sie gaben Hinweise auf die Position des Frauenfunks innerhalb des Bayerischen Rundfunks. Deutlich wurde dabei, dass der Frauenfunk zu rebellisch für den konservativen Bayerischen Rundfunk war und deshalb immer wieder bei den Programmverantwortlichen aneckte. Dass sich der Frauenfunk neben Haushaltsthemen auch für politische Aufklärung, soziales Engagement und Frauenrechte einsetzte anstatt für weibliche Tugenden und bayerisches Brauchtum, wurde nicht gerne gesehen (vgl. Rundfunkratsprotokoll 1949). Dennoch wurde dem Frauenfunk viel freie Hand gelassen, weil die Sendungen des Frauenfunks sehr beliebt waren.“19

Selbst für eine Künstlerbiographie können die Gremienprotokolle interessant sein. So schreibt Renate Ulm über ihre Forschung zum Dirigenten Eugen Jochum: „In den Rundfunkratsprotokollen sind die langwierigen, oft zähen Diskussionen dokumentiert, die am Ende die Voraussetzungen für die Orchestergründung bildeten.“20

Ein Tipp, den ich aus den Recherchen für meine mediengeschichtliche Dissertation21 geben kann, ist genau zu recherchieren, welche Rundfunkanstalt für welches Projekt relevant sein könnte. Es gab ARD-Fernsehsendungen, die in allen ARD-Anstalten Gegenstand der Ausschüsse waren. Meistens beschäftigten sich die Gremien jedoch mit den von der jeweiligen Anstalt produzierten und verantworteten Sendungen im Radioprogramm, im dritten TV-Programm und den Zulieferungen fürs Erste Programm.

Zum Teil haben die verschiedenen Sendehäuser auch eine sehr unterschiedliche Diskussions- oder Protokollkultur. Während die Protokolle im Stuttgarter SDR oft nüchtern formuliert waren und sich die Teilnehmer eher nur knapp zu Wort meldeten, was auf eine straffe Sitzungsleitung schließen lässt, fiel mir bei Radio Bremen eine ausgesprochen offene Diskussionskultur auf. Es könnte also sein, dass auch süddeutsche Produktionen in Bremen Thema waren – aber nicht zwingend umgekehrt. Es sei denn, es handelte sich um ein großes Politikum.

Auch darf man vom Aufbau einer Anstalt nicht unbedingt auf andere schließen. Je nach Sender sind auch die Zuständigkeiten der Aufsichtsgremien unterschiedlich verteilt; diese können sich im Laufe der Jahrzehnte auch verändern. So hatte etwa der WDR-Rundfunkrat lange Zeit keine Kompetenzen in konkreten Programmfragen. Diese erhielt er erst mit dem WDR-Gesetz von 1985. Vorher waren der Verwaltungsrat des WDR und der Programmbeirat des WDR für Programmfragen zuständig. Während in vielen Anstalten der Verwaltungsrat vor allem Finanz- und Personalfragen berät, können in Verwaltungsratsakten des WDR also durchaus auch inhaltliche Diskussionen über die Ausrichtung des Programms oder gar einzelne Sendungen stattgefunden haben.

Im Rahmen meiner Recherchen stellte ich das Desiderat der Kontinuität von Medienschaffenden der Bundesrepublik zum Nationalsozialismus fest. Nur wenigen dürfte bekannt sein, dass WDR-Intendant Friedrich-Wilhelm von Sell22 oder der bekannte Regisseur Franz-Peter Wirth23 einst NSDAP-Mitglied waren. Auch bietet der Fall Richard Becker ein spannendes Forschungsthema. 1983 war bekannt geworden, dass der Intendant des Deutschlandfunks, Richard Becker, als 17-Jähriger Mitglied der Waffen-SS war. Der Vertreter des Zentralrats der Juden in den Aufsichtsgremien des Deutschlandfunks blieb nach Bekanntwerden von Beckers SS-Vergangenheit den Sitzungen fern. Mit einer Politik des leeren Stuhls versuchte der Zentralrat, auf Beckers Rücktritt hinzuwirken und unmissverständlich die Haltung zu demonstrieren, dass ehemalige Angehörige der Waffen-SS keine öffentlichen Ämter bekleiden können. Der Zentralrat der Juden führte diesbezüglich auch Gespräche mit SPD und DGB darüber, allerdings wollten diese ihren Verbündeten nicht fallen lassen: Becker war SPD-Mitglied und ehemaliger Bundesvorstandssekretär des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Der Zentralrat der Juden befürchtete, SPD und Juden würden sich hinter dem Narrativ verstecken, Becker habe sich auch als Mitglied der SS „korrekt“ verhalten. Die Befürchtung war nicht unberechtigt: Becker blieb bis 1988 im Amt.

Bevor Becker Intendant wurde, gehörte er Rundfunkrat und dem Programmausschuss des Deutschlandfunks an. Auch dies wäre eine Studie wert: der Wechsel von Aufsichtsgremien ins operative Rundfunkgeschäft – und umgekehrt.

Plädoyer

Rundfunkgeschichte zu schreiben heißt, immer wieder aufs Neue einen populären Irrtum aufzuklären: dass trotz öffentlich-rechtlicher Verfasstheit und Rundfunkgebühren die Rundfunkanstalten dieselben Archivauflagen wie Behörden haben.24 Folglich gehört es auch zum guten Ton mediengeschichtlicher Tagungen, den „schwierigen Zugang zu den Medienarchiven der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten“25 zu kritisieren und ein ausstehendes Gesetz, das Archivierung und Bereitstellung der Quellen vorschreibt, einzufordern.26 Als Schritt in die richtige Richtung ist der „einheitliche[] Zugang zu öffentlich-rechtlichen Archiven für Forscher und Wissenschaftler“ zu werten, den die Intendanten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im April 2014 bekannt gegeben haben.27

Dennoch gibt es noch viel zu tun – auch hinsichtlich von Gremienprotokollen. Gerade Rundfunkanstalten, deren Journalisten für ihre Recherchen stets uneingeschränkte Transparenz und Auskunftsfreude einfordern sowie Akten teils auf dem Klageweg erstreiten, sollten selbst mit gutem Beispiel vorangehen. So ist wenig nachvollziehbar, warum Gremienprotokolle des Hessischen Rundfunks auch nach der üblichen Schutzfrist von 30 Jahren unter Verschluss sind. In Zeiten, in denen manche Sender ihre Sitzungen mittels Livestream einer maximalen Öffentlichkeit im Internet öffnen, mutet jegliche Arkanpolitik umso anachronistischer an.

Doch auch andere Rundfunkanstalten sollten ihre vergleichsweise restriktive Protokoll-Politik überdenken. Wie eine Ironie der Geschichte wirkt der Umstand, dass ausgerechnet der für seine Liberalität bekannte Westdeutsche Rundfunk die mit restriktivste Protokoll-Praxis fährt, während traditionell konservative Anstalten wie der Bayerische Rundfunk oder der Südwestrundfunk liberale, unkomplizierte Forschungspraktiken ermöglichen.

Bester Ansprechpartner für rundfunkhistorische Arbeiten sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der historischen Archive der jeweiligen Sender.28 Doch nicht immer haben sie die Hoheit über die Gremienprotokolle. Ein Teil der Rundfunkanstalten hat das Schriftgut staatlichen Archiven übergeben, bei manchen sind sie im Gremienbüro archiviert.

Im Folgenden gebe ich einen Überblick über die Aufbewahrungspraxis und Zugänglichkeit der einzelnen Rundfunkarchive. Es fehlt der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR)29, da dieser erst mit der Deutschen Einheit entstand – und somit noch nicht im Fokus von Rundfunkhistorikern stand. Auch klammere ich aufgrund seiner komplett eigenen Struktur das DDR-Fernsehen aus.

Die unterschiedliche Protokoll-Praxis habe ich alphabetisch geordnet nach den Namen der Rundfunkanstalten. Grundlage der Informationen sind entweder Findbücher oder die von den Archivar/innen der Sender zur Verfügung gestellten Informationen.

ARD-Hauptprogramm

Wer sich für die Aufsichtsgremien des ARD-Hauptprogramms interessiert, ist beim Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt an der richtigen Adresse. Die Protokolle der Aufsichtsgremien (Konferenz der Gremienvorsitzenden, ARD-Programmbeirat) wurden dem DRA Frankfurt mit den Akten des ARD-Büros und der Programmdirektion übergeben.

Die Einsicht der Protokolle ist nach formloser Genehmigung durch das ARD-Generalsekretariat möglich. Dies kann zwar einige Wochen dauern, verläuft in der Regel aber unkompliziert. Die Konferenz der Gremienvorsitzenden ist von 1953 bis 1986 überliefert, Sitzungsprotokolle des ARD-Programmbeirates von 1956 bis 2014. In der Regel handelt es sich um Ergebnisprotokolle. Die frühen Protokolle der Jahre 1945 bis 1962 liegen dem DRA als PDF vor, eine OCR-Suche ist aufgrund des schlechten Ausgangsmaterials aber nicht zufriedenstellend.

Bayerischer Rundfunk (BR)

Im Historischen Archiv des Bayerischen Rundfunks befinden sich Protokolle des Rundfunkrats, des Verwaltungsrats und der jeweiligen Ausschüsse, zum Beispiel des Hörfunkausschusses, des Fernsehausschusses, des Bauausschusses, des Technischen Ausschusses und des Richtlinienausschusses. Dabei handelt es sich um redaktionell bearbeitete und gekürzte Verlaufsprotokolle. Seit 1949 sind diese mit wenigen Lücken vollständig überliefert, komplett digitalisiert und damit auch einfach per OCR-Erkennung durchsuchbar, etwa nach Schlüsselbegriffen oder Namen.

Das Historische Archiv des BR schreibt die übliche Schutzfrist von 30 Jahren vor. Protokolle dürfen nicht fotografiert werden, für vereinzelte Seiten sind nach Absprache mit der Archivleitung Ausnahmen möglich. Zitate müssen nicht autorisiert, aber Abbildungen genehmigt werden.

Vor allem für Forscher, die sich mit CSU-Politikern auseinandersetzen, ist ein Besuch im Historischen Archiv des Bayerischen Rundfunks lohnenswert. Viele führende bayerische Politiker waren einmal in einem BR-Gremium vertreten; teils deftige und polemische Zitate – zum Beispiel von Edmund Stoiber – erfrischen den manchmal staubigen Archivalltag.

Deutsche Welle (DW)

Von der Deutschen Welle sind Rundfunkrats- und Verwaltungsratsprotokolle im Bundesarchiv überliefert. Phasenweise gab es auch Beiräte. Es handelt sich um Ergebnisprotokolle mit hohem Verlaufsanteil, allerdings nicht im Sinne eines indirekten Transkripts. Meistens sind Berichte, Planungs- und Beschlussvorlagen Teil oder Anhang des Protokolls. Das Verlaufsprotokoll enthält also häufig Arbeitsaufträge, Kritik oder Präzisierungen.

Ebenso wie die Intendanzakten wurden die Gremienprotokolle an das Bundesarchiv übergeben, wo sie derzeit bis 1980 erfasst sind (Bestand B187). Beginn der Überlieferung ist der 12.06.1961, als die Deutsche Welle gegründet wurde. Davor existierte die Deutsche Welle als Auslandssender der Landesrundfunkanstalten. Der Katalog des Bundesarchivs (B187) gibt Aufschluss über Lücken in der Überlieferung.

Die Einsichtnahme erfolgt nach den Bestimmungen des Bundesarchivs, bei Einzelfallklärung entscheidet die Geschäftsleitung der Deutschen Welle.30

Deutschlandradio

Die Gremienprotokolle des Deutschlandradios sind im Gremienbüro auf Filmrollen überliefert. Diese Überlieferungsform führt dazu, dass der Zeitraum von Anfragen zu Sitzungsprotokollen möglichst eng eingegrenzt werden sollte, um entsprechendes Material zu finden. Schriftgut zum RIAS, dem Vorgänger von Deutschlandradio Kultur, ist im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam überliefert.

Hessischer Rundfunk

Der Hessische Rundfunk ist die einzige öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt, die die Protokolle der Aufsichtsgremien der Forschung vorenthält. Einsichtnahmen sind hier grundsätzlich nicht möglich. Die Protokolle sind in der Geschäftsstelle des Rundfunk- und Verwaltungsrats überliefert. Es liegt an den Rundfunkräten des Hessischen Rundfunks, diese Praxis zu ändern. Vor dem Hintergrund spannender Amtsträger – etwa Ignatz Bubis, ehemaliger Präsident des Zentralrats der Juden, der von 1987 bis 1992 Vorsitzender des Rundfunkrates des Hessischen Rundfunks war – sollte die restriktive Protokoll-Politik dringend geändert werden.

Norddeutscher Rundfunk (NDR)

Es gibt Protokolle des Rundfunkrates und seiner Ausschüsse (Programmausschuss, Rechts- und Eingabenausschuss, Ausschuss für Finanzen, Wirtschaft und Informationstechnologien) sowie des Verwaltungsrates und seines Finanzausschusses. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Ergebnisprotokolle. Der Zustand der Überlieferung ist gut. Für den Rundfunkrat liegen ab 1955, für den Programmausschuss ab 1981, für den Rechts- und Eingabenausschuss ab 1981, für den Ausschuss für Finanzen, Wirtschaft und Informationstechnologien ab 1955 Protokolle vor. Für den Verwaltungsrat sind Protokolle ab 1948, für den Finanzausschuss ab 1957 vorhanden. Die Protokolle des Rundfunkrates sind ab 2004 digitalisiert, die Protokolle des Verwaltungsrates ab 1948 und können so nach Stichworten durchsucht werden.

Eine Einsichtnahme in die Protokolle bedarf der Genehmigung des Vorsitzenden des Rundfunk- oder Verwaltungsrates, die auf Grundlage der „Regelungen über den Zugang von Wissenschaft und Forschung zum Archivgut der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik Deutschland und des Deutschen Rundfunkarchivs“ erfolgt. Die Protokolle sind im Gremienbüro des NDR archiviert; Anfragen zur Einsichtnahme sind in schriftlicher Form an die Leiterin des Gremienbüros zu richten.

Radio Bremen (RB)

Wer sich für Protokolle der Aufsichtsgremien von Radio Bremen interessiert, musste lange Zeit zwischen dem Staatsarchiv und dem Funkhaus hin- und herpendeln, da die Akten teilweise dem Archiv übergeben waren, teilweise sich noch im Gremienbüro befanden. Mittlerweile wurde das Schriftgut aus dem Gremienbüro komplett dem Staatsarchiv Bremen übergeben.

Hier finden sich Akten des Rundfunk- und Verwaltungsrates, Protokolle des Fernsehausschusses (ab 1962), des Verwaltungsrates (ab 1949), des Personalausschusses und weiterer Ausschüsse (1951–1970), des Haushalts- und Kreditausschusses (1949–1967), des Bauausschusses (1958–1967), des Rundfunkrates (1949–1989), des Rundfunk- und Verwaltungsrates (1949–1988), des Haushaltsausschusses (1952–1976) sowie thematischer Ausschüsse (pädagogische Sendungen, literarisch-wissenschaftliche Sendungen, aktuelle Sendungen der Abteilung Heimatfunk und der Abteilung Unterhaltung, Beschwerdeausschuss, Musikausschuss).

Sollte man sich für einen jüngeren Untersuchungszeitraum interessieren, gilt es, Kontakt mit dem Gremienbüro aufzunehmen. Teile der Protokolle, die verwendet werden, müssen dem Rundfunkratsvorsitzenden vorgelegt werden.

Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB)

Historiker, die meistens erst nach 30 Jahren einen Gegenstand zu historisieren versuchen, haben am Rundfunk Berlin-Brandenburg noch kein Interesse: Er wurde erst 2003 infolge der Fusion des Senders Freies Berlin (SFB) und des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg (ORB) gegründet. Aufgrund des Sonderstatus von West-Berlin wären weitere Forschungen zum SFB wünschenswert. Das SFB-Schriftgut ist im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam einsehbar, allerdings sind die Rundfunkratsprotokolle nicht lückenlos überliefert. Teilweise gibt es im Archiv des RBB noch punktuelle Überlieferungen. Es ist also einen Versuch wert, sowohl in Berlin als auch in Potsdam nachzufragen – ob aber Protokolle zum gewünschten Zeitraum und zum gefragten Gegenstand vorliegen, muss von Fall zu Fall geprüft werden. Die Protokolle sind im Gremienbüro archiviert. Es liegen Rundfunkratsprotokolle, Verwaltungsratsprotokolle, Programmausschussprotokolle, Haushalts- und Finanzausschussprotokolle, Telemedienausschussprotokolle und Dreistufentestausschuss-Protokolle vor. Dabei handelt es sich zumeist um Verlaufsprotokolle, teilweise jedoch auch nur um Zusammenfassungen. Die RBB-Protokolle sind seit 2003 digital überliefert. Protokolle öffentlicher Sitzungen sind seit 2012 auf der Website abrufbar.

Die Protokolle der RBB-Vorgängeranstalt SFB, die sich nicht im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam befinden, und der RBB-Vorgängeranstalt ORB sind im Zwischenarchiv des UHA (Unternehmens- und Historisches Archiv des RBB) in Potsdam und Berlin gelagert. Sie sind noch nicht erfasst und somit auch nicht zugänglich.

Saarländischer Rundfunk (SR)

Im Archiv des Saarländischen Rundfunks sind Protokolle des Rundfunkrats, des Verwaltungsrats und des Programmbeirats überliefert. Teilweise haben diese den Charakter von Ergebnis-, teilweise von Verlaufsprotokollen. Der Zustand der Überlieferung variiert – der SR räumt ein, das Schriftgut sei vor allem in früheren Jahrzehnten unprofessionell gelagert worden. Aufgrund des Saarstatuts ist der SR die jüngste westdeutsche Landesrundfunkanstalt. Er wurde 1957 gegründet, entsprechend sind Aktenbestände mit Lücken sowohl für den Rundfunkrat (1957–2011) als auch für den Verwaltungsrat (1957–2011) und den Programmbeirat (1961–2012) vorhanden. Ab 1946 gab es Radio Saarbrücken als Sender mit sehr unterschiedlichen Strukturen, teilweise mit einem Generaldirektor. Im Oktober 1952 wurde die Saarländische Rundfunk GmbH gegründet; hierzu gibt es überschaubare Aktenbestände des Aufsichtsrats (1954–1956/57).

Bis auf die aktuellen Protokolle sind die Niederschriften nicht digitalisiert. Altakten sind im Archiv überliefert, jüngere Protokolle im Gremiensekretariat.

Süddeutscher Rundfunk (SDR) und Südwestfunk (SWF), heute Südwestrundfunk (SWR)

Das Archiv des Südwestrundfunks hat zwei Standorte: Baden-Baden für den ehemaligen Südwestfunk und Stuttgart für den ehemaligen Süddeutschen Rundfunk. In Baden-Baden sind die Protokolle der Aufsichtsgremien (Rundfunkrat, Verwaltungsrat, Ausschüsse) von 1949 bis 1998 überliefert. Dazu gehören Protokolle ebenso wie Sitzungsunterlagen und Korrespondenzen. Die Form der Protokolle ist nicht einheitlich: Es gibt sowohl Ergebnis- als auch Verlaufsprotokolle mit Wortmeldungen. Die Überlieferung ist vollständig erhalten. Seit der Fusion 1998 mit dem SDR zum SWR liegen die neuen Gremienprotokolle in Stuttgart. Die SWF-Protokolle sind nicht digitalisiert.

Nach vorheriger Prüfung des Themas und in Absprache mit der Hauptabteilungsleitung Information, Dokumentation und Archive (IDA) stehen die Unterlagen von SWF und SDR der Forschung zur Verfügung. Auszüge dürfen nach Absprache fotokopiert oder fotografiert werden. Fertige Arbeiten müssen vor Veröffentlichung dem SWR zur Prüfung und Genehmigung vorgelegt werden.

Die SDR-Akten hingegen liegen teilweise digitalisiert und damit durchsuchbar vor: die Protokolle der Ausschüsse für Fernsehen, Kultur, Musik und Politik für den Zeitraum 1966–1998, des Finanz-Ausschusses von 1977 bis 1996, des Programm-Ausschusses von 1986 bis 1998 und des Verwaltungsrates von 1953 bis 1998. Es besteht außerdem die Möglichkeit, im SDR-Bestand mittels Karteikarten und einer Datenbank zu recherchieren.

Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass mittels der Karteikarten die Tagesordnung der einzelnen Sitzungen überflogen und so die Suche schnell eingekreist werden kann. Anders als bei der digitalisierten Suche, bei der man genau wissen muss, wonach man sucht, ergeben sich so auch manchmal Zufallstreffer und ungeahnte Forschungsfunde: Auf der Suche nach Rabbinern im Radio stieß ich mittels der Karteikarten-Suche auf islamische Verkündigungssendungen im Rundfunkprogramm für Gastarbeiter – und konnte so die These widerlegen, wonach es erst infolge des 9/11-Diskurses islamische Sendeformate wie „Forum am Freitag“ oder „Islam in Deutschland im Rundfunk“ gab.31

Der SWR zeigt sich Forschungsarbeiten gegenüber besonders aufgeschlossen. So ist nach Rücksprache mit dem Gremienbüro und der Intendanz auch Einsicht in relativ junge Bestände möglich. Ich konnte etwa 2011 Akten über den erst fünf Jahre zurückliegenden Streit über islamische Verkündigungssendungen einsehen.

Westdeutscher Rundfunk (WDR)

Als größte ARD-Anstalt bietet sich der Westdeutsche Rundfunk für rundfunkhistorische Arbeiten besonders an. Ein Teil der Protokolle der Aufsichtsgremien befindet sich im Historischen Archiv, ein anderer im Gremienbüro des WDR. Die Ablage der Gremienprotokolle erfolgte im WDR sehr heterogen, was auch auf die verschiedenen, häufig wechselnden Aktenbildner zurückzuführen ist. Eine Ablage nach ganzen Serien an einer Stelle, die einen schnellen Überblick verschaffen könnte, existiert nicht. Es empfiehlt sich daher, in einem ersten Schritt das Historische Archiv zu kontaktieren und, wenn dieses nicht fündig wird, die Geschäftsstelle des Rundfunkrats und des Verwaltungsrats anzufragen. Hier muss an den Vorsitzenden ein Antrag auf Akteneinsicht gestellt werden. Die Protokolle können dann in den jeweiligen Geschäftsstellen eingesehen werden. Kopien werden nach einer Prüfung zugeschickt.

Da die Einsichtnahme im Historischen Archiv deutlich unkomplizierter ist als in den Geschäftsstellen, ist sehr zu empfehlen, im Archiv anzufangen und hier nach Fragmenten zu suchen. Teilweise wurden Protokollauszüge aus den Gremien den zuständigen Fachredaktionen zur Kenntnisnahme weitergeleitet, sodass zu kontroversen Fernsehspielen die entsprechenden Passagen aus dem Rundfunk-, Programm- oder Verwaltungsrat teilweise auch in den Fernsehspielakten überliefert sind.

ZDF

Beim ZDF ist die Geschäftsstelle Fernsehrat/Verwaltungsrat für alle Unterlagen der beiden ZDF-Gremien zuständig. Die Grundlagen für das Procedere sind in der Geschäftsordnung des Fernsehrates und des Verwaltungsrates geregelt.32 Über Anträge zur Protokolleinsicht von öffentlichen Sitzungen des Fernsehrates entscheidet der Vorsitzende des Fernsehrates, bei nichtöffentlichen und vertraulichen Sitzungen das Erweiterte Präsidium des Fernsehrates. Laut der Geschäftsordnung sind die Ausschusssitzungen des Fernsehrates nichtöffentlich und die Beratungsunterlagen vertraulich eingestuft. Es gilt eine vorbildhaft forschungsfreundliche Schutzfrist von acht Jahren.

Nach Genehmigung des Antrages können die entsprechenden Protokolle in der Mainzer ZDF-Zentrale eingesehen werden. Die älteren Unterlagen liegen physisch im Unternehmensarchiv, gehören aber weiterhin den Gremien-Geschäftsstellen. Daher läuft die Einsichtnahme auch über die Geschäftsstellen und nicht über das Unternehmensarchiv.

Seit Beginn der Tätigkeit des Verwaltungsrates (VR) und des Fernsehrates (FR) liegen von allen Sitzungen des Plenums und auch der Ausschüsse Sitzungsprotokolle vor. Nur in den ersten Jahren – etwa bis Mitte der 1960er Jahre – sind diese in ausführlicher Form vorhanden, spätestens seit Ende der 1960er Jahre haben sie den Charakter von Ergebnisprotokollen. In den Protokollen werden auch Diskussionen festgehalten, aber nicht in wörtlicher Rede.

Die Überlieferung ist sehr gut und seit Beginn der Tätigkeit des VR und des FR 1961/62 vollständig. Nur die Protokolle der letzten Jahre sind digitalisiert. Es gibt aber von allen Jahren digitale Listen mit den Tagesordnungspunkten.

Gremien im Wandel und in der Diskussion

Die Geschichte der Aufsichtsgremien ist eng mit der deutschen Geschichte verbunden und damit auch eine ausführliche Historisierung wert. Die Besatzungsmächte wollten von der Exekutive losgelöste Anstalten und damit eine Anti-These zur NS-Rundfunkpropaganda. Entsprechend darf auch die Aufsicht über die Radio- und Fernsehsender nicht beim Staat liegen, sondern bei der Gesellschaft selbst.

Eines der umstrittensten Themen in der Gremiengeschichte ist die Frage, wie genau die Programmgestaltungskompetenz des Rundfunkrats aussieht. Konkret: Sind die Rundfunkräte ein Aufsichtsgremium, das ausschließlich reagiert und im Nachhinein Sendungen kritisch würdigt – oder ist es eine Kontrollinstanz, die auch prospektiv agiert und sich in das laufende Geschäft einmischt, etwa kontroverse Sendungen begutachtet und mitentscheidet, ob sie ausgestrahlt werden dürfen oder nicht?

Bei der Diskussion über die amerikanische TV-Serie „Holocaust“ etwa gab es Vorbehalte, den NDR-Rundfunkräten die Serie im Vorfeld der Sendung zu zeigen, da dies als Kompetenzüberschreitung wahrgenommen wurde. Auch die Gremien des Bayerischen Rundfunks diskutierten über unterschiedliche Rollenverständnisse eines Rundfunkrates, wie aus einem Dialog zwischen dem jüdischen Vertreter Hans Lamm und dem katholischen Vertreter Karl Forster über die amerikanische TV-Serie „Holocaust“ hervorgeht.33

Laut der Juristin Caroline Hahn ist „mit der herrschenden Meinung davon auszugehen, dass dem Rundfunkrat keine Programmgestaltungskompetenz zusteht“. 34 Allerdings gebe es auch juristische Argumente, die für eine „gestaltende, gegebenenfalls auch verhindernde Funktion“ der Gremienmitglieder argumentierten.35

Unstrittig ist, dass der Rundfunkrat Verstöße mittels einer Beanstandung oder einer Rüge formell kritisieren kann.36 Allerdings ist wiederum umstritten, „ob die Feststellung des Verstoßes für den Intendanten insgesamt verbindlich ist oder nicht“ und „ob sich das verbindliche Weisungsrechts des Rundfunkrats an den Intendanten auch auf alle Rundfunkräte erstreckt“.37

Diese Schlaglichter auf kontroverse Fragen zum Selbstverständnis der einzelnen Gremien zeigen, dass institutionengeschichtliche Fragen zum Rundfunkrat zugleich spannende gesellschaftsgeschichtliche Aspekte beleuchten. Die Akten der Gremien sind somit auch über die reine Programmgeschichte hinaus eine spannende Fundgrube.

Fußnoten

1 Dieser Aufsatz enthält einzelne Textpassagen meiner Dissertation: Raphael Rauch: „Visuelle Integration“? Juden in westdeutschen Fernsehserien nach „Holocaust“. Göttingen 2017 (im Erscheinen). (Rauch 2017)

2 Andrea Sinn: „Und ich lebe wieder an der Isar“: Exil und Rückkehr des Münchner Juden Hans Lamm. München 2008.

3 Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2009.

4 Nicolai Hannig: Die Religion der Öffentlichkeit: Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945–1980. Göttingen 2010, S. 13.

5 Ebd.

6 Konrad Dussel: Die Interessen der Allgemeinheit vertreten. Die Tätigkeit der Rundfunk- und Verwaltungsräte von Südwestfunk und Süddeutschem Rundfunk 1949–1969. Baden-Baden 1995.

7 Konrad Dussel an RR, 25.03.2017.

8 Ebd.

9 Ebd.

10 Alina Laura Tiews: Fluchtpunkt Film: Integrationen von Flüchtlingen und Vertriebenen durch den deutschen Nachkriegsfilm 1945–1990. Berlin 2017 (im Erscheinen).

11 Alina Laura Tiews an RR, 22.03.2017. (vgl. Anm. 7)

12 Ebd.

13 Ebd.

14 Ebd.

15 Ebd.

16 Ebd.

17 Markus Behmer / Birgit Bernard / Bettina Hasselbring (Hg.): Das Gedächtnis des Rundfunks: Die Archive der öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Bedeutung für die Forschung. Wiesbaden 2014. (Behmer / Bernard / Hasselbring 2014)

18 Christina von Hodenberg: Exemplarische Studie: Auf der Suche nach dem Zuschauer. Rezeptionsforschung im Archiv. In: ebd., S. 237-244, S. 241.

19 Annegret Braun: Exemplarische Studie: Eine Fundgrube für Alltagsgeschichte. Der Frauenfunk des Bayerischen Rundfunks. In: ebd., S. 285-292, S. 287.

20 Renate Ulm: Exemplarische Studie: Der Dirigent Eugen Jochum und die Gründung des Symphonieorchesters 1949. In: ebd., S. 341-348, S. 343.

21 Rauch 2017.

22 Laut Bundesarchiv gibt es zwei Belege für von Sells NSDAP-Mitgliedschaft: BArch (ehem. BDC), NSDAP-Zentralkartei, Sell, Fr. Wilhelm, geb. 23.01.1926; BArch (ehem. BDC), NSDAP-Gaukartei, Sell, Fr. Wilhelm, geb. 23.01.1926.

23 BArch (ehem. BDC), NSDAP-Gaukartei, Wirth, Franz Peter, geb. 21.09.1919.

24 Petra Witting-Nöthen: Rechtliche Aspekte der Archivnutzung. In: Behmer / Bernard / Hasselbring 2014, hier S. 429-436, S. 434.

25 Christine Schoenmakers: Tagungsbericht: Filmnarrationen zwischen Zeitgeschichtsschreibung und populärkultureller Aneignung, 17.10.2013-18.10.2013 Hannover. In: H-Soz-Kult, 10.12.2013, Online unter: http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5132 (zuletzt abgerufen am 03.04.2017).

26 Diese Forderung wurde etwa bei dem Workshop „Filmnarrationen zwischen Zeitgeschichtsschreibung und populärkultureller Aneignung“ in Hannover im Oktober 2013 erhoben. Vgl. Anm. 25. Vgl. auch Margarete Keilacker: Mangelnder Zugang zum Medienerbe behindert Zeitgeschichtsforschung: Interview mit Leif Kramp zur „Initiative Audiovisuelles Erbe“. In: „Rundfunk und Geschichte“, 1-2/2013; vgl. dies.: Differenzierte Erfahrungen. Umfrage zur Umsetzung des Archivbeschlusses der ARD-Intendant/innen aus dem Jahr 2014. In: „Rundfunk und Geschichte“, 3-4/2016,;vgl. Leif Kramp: Zur Situation der Rundfunkarchivierung in Deutschland. In: „Rundfunk und Geschichte“, 3-4/2015.

27 Vgl. online unter: http://www.ard.de/home/intern/presse/pressearchiv/Einheitlicher_Zugang_zu_Archiven_fuer_Wissenschaftler/900322/index.html (zuletzt abgerufen am 03.04.2017).

28 Eine Übersicht mit Kontaktdaten findet sich bei Jana Behrendt: Adressen und Ansprechpartner/innen. In: Behmer / Bernard / Hasselbring 2014, hier S. 443-450.

29 Die Schutzfrist liegt bei 30 Jahren. Da der MDR erst 1991 gegründet wurde, liegen deshalb auch noch keine Erfahrungen mit Forschungsarbeiten vor.

30 Eine Arbeit, die sich auf den DW-Bestand im Bundesarchiv samt Gremienprotokollen stützt, ist von Anke Hagedorn: Die Deutsche Welle und die Politik. Deutscher Auslandsrundfunk 1953-2013, München 2016.

31 Raphael Rauch: „Neues Sendungsbewusstsein“: Islamische Verkündigung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. In: „Communicatio Socialis“ 3/4 (2013) S. 455-478; Raphael Rauch: Muslime auf Sendung: Das „Türkische Geistliche Wort“ im ARD-„Ausländerprogramm“ und islamische Morgenandachten im RIAS. In: „Rundfunk und Geschichte“ 1-2/2015, S. 9-21.

32 Online unter: https://www.zdf.de/zdfunternehmen/zdf-rechtsgrundlagen-und-vorschriften-100.html (zuletzt abgerufen am 03.04.2017).

33 Vgl. FA-Sitzung 307, 01.06.1978. In: HA BR, Gremienprotokolle.

34 Caroline Hahn: Die Aufsicht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Frankfurt am Main 2010, S. 44.

35 Ebd., S. 53.

36 Ebd., S. 61.

37 Ebd., S. 62.

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