50. Jahrestagung des Studienkreises Rundfunk und Geschichte in Königs Wusterhausen am 13. und 14. November 2023 in Kooperation mit dem Förderverein „Sender Königs Wusterhausen“ e.V.
Passend zum großen Rundfunkjubiläum veranstaltete der Studienkreis seine 50. Jahrestagung am Fuß des Funkerbergs. Veranstalter und Gäste trafen sich auf Einladung des Fördervereins „Sender Königs Wusterhausen“ e.V. im Saal der ehemaligen Funkschule der Deutschen Post – deren frisch saniertes Gebäude heute den Bildungscampus des Landkreises Dahme-Spree beherbergt. Eine gute Wahl, denn der Funkerberg mit seiner imposanten Anlage und historischen Aura ist ein einzigartiger Ort, um sich den Anfängen der deutschen Rundfunkgeschichte zu widmen. Dazu passte das Do-it-yourself-Thema der Tagung, also das Basteln, freie Senden, Mitschneiden, Streamen und Archivieren durch die vielen Radioenthusiasten weltweit. Rundfunkgeschichte ist bekanntermaßen mehr als nur das institutionelle Senden, es ist vor allem auch eine Geschichte der Radiohörer und -liebhaber, die oftmals diese Leidenschaft pflegen, indem Sie Radioproduktionen mitschneiden, sammeln, dokumentieren, imitieren oder selbst machen. So ist also die Rundfunkgeschichte immer auch eine Geschichte von Selbstwirksamkeit und Selbstermächtigung. Der Studienkreis-Vorsitzende Kai Knörr eröffnete gemeinsam mit dem stellvertretenden Vorsitzenden Golo Föllmer die Tagung mit einem treffenden Zitat des Berliner Schauspielers und Rundfunkpioniers Alfred Braun: „Im Anfang war die Technik“. Ergänzend sei hinzugefügt, dass im Anfang auch eine Idee war. Und für den Do-It-yourself-Betrieb sollte es im Verlauf der Rundfunkgeschichte schließlich entscheidend werden, dass Radio und Speichermedien zusammenkamen. All diese Aspekte sollten zur Sprache kommen.
Panel 1 – Radio machen und Dokumentieren im Do-it-yourself-Betrieb
Los ging es mit Jan Bönkost vom Archiv der sozialen Bewegungen in Bremen, der einen Überblick zur Entwicklung der freien Radios („Instandbesetzer:innen der Rundfunkfreiheit“) gab. Diese sahen sich als Korrektiv und Gegengewicht zum öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopol, und formulierten im Fahrwasser der Neuen Sozialen Bewegungen das Ziel, über das selbstorganisierte Senden eine aktivierende ‚Gegenöffentlichkeit‘ zu schaffen. Für die alte Bundesrepublik konnte Jan Bönkost im Rahmen seiner bisherigen Forschungen über 100 freie Radios ermitteln. Da kein zentraler Überlieferungsort existiert, ist die Quellenlage eher bescheiden. Sie reicht von Fahndungsakten und Lagebildern der Polizei über Archive sozialer Bewegungen und politischer Gruppen bis hin zu privaten Mitschnitten und Zeitzeugengesprächen. Ein paar O-Töne von Radio Freies Wendland und Radio Zebra (Bremen) transportierten die anarchistische Atmosphäre der 1980er Jahre. Jan Bönkost verwies zudem auf die Veranstaltungen der Freien Radios zum Rundfunkjubiläum, an denen er auch beteiligt war und die einen etwas anderen Blick auf die Historie bieten (siehe auch www.anderesradio.de).
Die freie Radiokünstlerin Niki Matita aus Berlin berichtete über den Funktechniker Rolf Formis (1894-1935), der trotz seines kurzen Lebens und tragischen Tods als Pionier der frühen Radiogeschichte zu gelten hat und dem sie den bisher ersten Teil eines Werkzyklus widmet. Formis betrieb in den 1920er Jahren die Funkversuchsstation Ky4 auf dem Dachboden seines Wohnhauses in der Alexanderstr. 31 und die sogenannte „Fernempfangsstelle“ der SÜRAG auf Schloss Solitude in Stuttgart. Nach 1933 zur Emigration gezwungen, provozierte er die Nationalsozialisten mit illegalen Sendungen aus der Tschechoslowakei, die er letztlich mit dem Leben bezahlen musste. Für die Künstlerin war es nicht einfach, originale Zeugnisse von und über Formis zu finden. Überliefert ist immerhin der Audioschnipsel einer Reportage von der Fahrt des Luftschiffs „Graf Zeppelin“, in dem seine Stimme zu hören ist. Dennoch bleibt er ein Phantom der Rundfunkgeschichte. Niki Matita hat diesem Umstand mit ihrer experimentellen Sendung „Fernempfangsstelle“ am 28. Juni 2023 im Tschechischen Rundfunk (Cesky rozhlas), eindrucksvoll Rechnung getragen.
Auch Christian Collet vom Rundfunk Berlin-Brandenburg präsentierte einen ungewöhnlichen Zugang zur audiovisuellen Überlieferung. Sein Beitrag schilderte einen ungewöhnlichen medienarchäologischen Fund, bei dem ein verstorbener Sammler 20.000 Mitschnitte hinterließ, die eine Vielzahl von nicht überlieferten Konzertmitschnitten, und Hörfunkaufnahmen enthielten, vor allem aber auch eine Art Audio-Tagebuch ihres früheren Besitzers. Auf vielen dieser Tapes sind z.T. sehr intime Situationen seines Lebens festgehalten. Das mag teilweise skurril anmuten, als Audioquelle vermittelt es nicht nur einen Eindruck vom Zeitgeist früherer Jahrzehnte, sondern auch in eine mit der Compactkassette verbundene Medienpraxis. Aufbereitet ist das Konvolut in dem fulminanten WDR3-Kulturfeature „Wolfgang – Ein Leben auf 20.000 Kassetten“. Reinhören lohnt sich.
Die Keynote zur Jahrestagung hielt Carolyn Birdsall, die als Associate Professor for Media Studies an der Universität Amsterdam forscht und lehrt. Die gebürtige Australierin stellte die Kernthesen ihres neuen Buches „Radiophilia“ (The Study of Sound, Bloomsbury 2023) vor und gab damit einen signifikanten Diskussionsrahmen für die Themenvielfalt der Tagung. Im Buch unternimmt sie den Versuch, das Phänomen der inzwischen hundert Jahre währenden Radiobegeisterung fassbar zu machen, in dem sie beispielsweise Fan Studies, History of Emotions, Material Culture als Infrastruktur der Radiophilie oder als „Bridging“ (Amateurs, Recording, Archiving) beschrebt. Letztlich ist die Radioliebe oft an die eigene Alltagswelt der Radiohörer rückgebunden, was sich beispielsweise in Sammlungen oder in Imitationen von Radiopraxis zeigt.
Panel 2 – Zeitgeist im Wohnzimmer – Private Mitschnitt-Sammlungen
Auf der Tagung machte der saloppe Begriff von den „entspannten Österreichern“ die Runde, womit wohl vor allem gewisse Freiräume gemeint sind, in denen österreichische Archive hinsichtlich ihrer Sammlungspraxis agieren können. Es war daher spannend, zu hören, was Johannes Kapeller als stellvertretender Leiter der Österreichischen Mediathek in Wien mit seinem Tagungsbeitrag „99 Jahre Radio sammeln“ bot. Er skizzierte die Sammlungstätigkeit der Mediathek seit 1960. Im Unterschied zu deutschen Archiven darf diese recht unkompliziert private Sammlungen annehmen. Derzeit sind ca. 2 Millionen Aufnahmen auf 650.000 Trägern dokumentiert. Der jährliche Sammlungszuwachs beträgt gesamt ca. 20.000 Träger. Als Beleg für die Lebendigkeit des Materials spielte er teils kurioses Audiomaterial der österreichischen Radiojournalisten Reinhard Schlögl, Erich Schenk und Herbert Loitsch ein.
Friedrich Dethlefs vom Deutschen Rundfunkarchiv stellte den Bestand Peter Huverstuhl vor, eines privaten Sammlers, dessen ca. 1.800 Mitschnitte des Rundfunkprogramms von 1940-1944 (200h Gesamtdauer) vor einigen Jahren in das DRA gelangt sind. Die privaten Radiomitschnitte, die der Kölner Unternehmer und Studiobesitzer auf Decelith-Folien (Direktschnittfolien aus Kunststoff) anfertigte, sind eine einzigartige rundfunkhistorische Quelle, die nicht nur viel über die Nazi-Propaganda erzählt. Sie enthält neben OKW-Berichten auch Tagesnachrichten, Presseschauen, Reportagen und Kommentare, aber auch speziellere Formate zum „Führergeburtstag“ oder Weihnachtsringsendungen. Rundfunkhistorisch sind sie besonders wertvoll, da es aus dieser Zeit kaum Mitschnitte gibt.
„Digiandi“ Andreas Knedlik präsentierte unter dem Titel „Save the Tapes. Die Verdatung privater Mitschnittsammlungen und ihre Relevanz für die Rundfunkgeschichte“ ein ganz besonderes medienarchäologisches Projekt: Seit Herbst 2010 sammelt er hobbymäßig Tonbänder und Kassetten mit privaten Aufnahmen von Rundfunksendungen, die in den Funkhäusern großenteils nicht archiviert sind. Die Sammlung umfasst alle offiziellen deutschsprachigen Programme, es sind private Mitschnitte von ehemaligen Machern, Dachboden- und Kellerfunde, Privatsammlungen. 27.000 Kassetten sind inzwischen im Bestand, ca. 150 Geräte zur hochwertigen Digitalisierung im Einsatz. Und der Fundus wächst. Ein Blick auf die Webseite www.digiandi.de lohnt sich, hier können Metadaten recherchiert werden. Mit seinem beeindruckenden privaten Projekt digitaler Quellensicherung sorgt Andreas Knedlik dafür, dass das Alltagsradio der 1970er bis 1990er Jahre auf absehbare Zeit erfahrbar bleibt.
Der erste Tag klang mit einer Führung zu historischen Orten auf dem Funkerberg aus. Rainer Suckow vom Förderverein „Sender Königs Wusterhausen“ e.V. präsentierte überbordend und kenntnisreich technische Details im Senderhaus 3 sowie geschichtliche Kontexte zum gesamten historischen Areal auf dem Funkerberg. Sein Enthusiasmus hat nicht zuletzt einen biografischen Hintergrund: Suckow selbst hat eine Ausbildung im Bereich Sendertechnik zu DDR-Zeiten auf dem Funkerberg absolviert, woran er sehr lebhafte Erinnerungen hat. Das Senderhaus 1, in dem sich u.a. das Museum befindet, wird derzeit saniert. Die historischen Sendeanlagen in Haus 3 machten mächtig Eindruck auf die Tagungsteilnehmer, zu denen auch eine große Anzahl Hallenser Studierender gehörte. Im anschließenden Kamingespräch sprachen Kai Knörr und Christoph Classen mit dem Medienjournalisten Jörg Wagner (rbb radioeins) und Rainer Suckow über Zugänge und die Vermittlung von Rundfunkgeschichte in professionellen Kontexten. Wichtig schien für beide zu sein, dass sich mit dem Rundfunk auch immer die Möglichkeit der Selbstaneignung und Emanzipation verbunden waren, dass in der Verwendung rundfunkhistorischer Dokumente und Technik unsere gesellschaftliche und technologische Gegenwart präziser und kritischer betrachtet werden kann.
Panel 3 – Radio-Aktivist*innen im Archiv
Der zweite Tag begann einem weiteren Gast aus Österreich: Paulina Petri vom Dokumentationsarchiv zur Erforschung der Geschichte des Funkwesens und der elektronischen Medien in Wien stellte die Arbeit ihres Archivs vor, das sich als Erinnerungslabor DokuFunk versteht. Es ist die weltweit größte Einrichtung mit Archivalien und Sammlungen jeder Art zur Geschichte des Funkwesens, mit den Schwerpunkten Rundfunk und vor allem Amateurfunk. Zurzeit betreut es über neun Millionen Objekte getreu dem Motto: „Keine Zukunft ohne Herkunft“. Das Archiv ist ein seit über dreißig Jahren sammelnd und wissenschaftlich tätiger gemeinnütziger und strikt nicht-kommerzieller Verein mit Sitz in Wien und weltweiter Mitgliedschaft (siehe www.dokufunk.org)
Rebecca Hernandez Garcia vom Archiv der DDR-Opposition Robert Havemann Gesellschaft in Berlin und Frank Holzkamp (Radio 100) stellten das Radio 100-Archiv vor. Das Besondere an diesem vierjährigen „Radiorausch“ war die Grenzüberschreitung – formell wie sendetechnisch. Radio 100 sendete von 1987 bis 1991 von Westberlin aus und strahlte weit in die DDR und darüber hinaus aus. Frank Holzkamp sprach in diesem Zusammenhang von dem 10KW-Sender als ein „Monster-Sender“, der ganz Mitteleuropa bespielte. Er war durchaus ein Sonderfall der Radiogeschichte und diente letztlich auch als Experimentierfeld und professionelle Plattform für ca. 300 Mitwirkende, von denen heute einige sehr populär sind (z.B. Robert Skuppin). Die Grenzüberschreitung von Radio 100 war legendär. So fungierte das Format „Radio Glasnost“ als Sprachrohr der DDR-Opposition. Derzeit wird versucht, die Geschichte des Senders systematisch zu dokumentieren und erforschen. (siehe www.Radio100.de)
Zum Abschluss der Tagung bot Ferdinand Klüsener von der Ruhr-Universität Bochum einen avancierten Blick zum DIY-Ansatz von Tetsuo Kogawas Polymorphous Space. Ein höchst philosophisches Angebot. Zum Tagungsfazit unter dem Motto „Bringt eure Bänder! & Roundtable: Potenziale privater Überlieferung zwischen Kassette und Youtube“ gab es nochmal sehr persönliche Einblicke. So präsentierten Kai Knörr, Golo Föllmer und Uwe Breitenborn anhand eigener Tapes biografische Zugänge zum Radio. Es zeigte sich, am Anfang war nicht nur die Technik, sondern stets auch die Liebe zum Radio. Und ein Speichermedium.
Uwe Breitenborn (Berlin | Potsdam)
Fotos: Kai Knörr, Susanne Hennings, Golo Föllmer
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