Bericht Jahrestagung 2015 in Wien

Geschichte(n), Repräsentationen, Fiktionen – Medienarchive als Gedächtnis- und Erinnerungsorte

Jahrestagung 2015 in Wien

Fotoimpressionen | Tagungsprogramm

Die 45. Jahrestagung des Studienkreises fand dieses Jahr in Kooperation mit der Zeitschrift „Medienimpulse“ am 7. und 8. Mai in Österreich statt. Thema und Platzierung der Tagung im frühlingshaften Wien (Ort: Depot) waren offensichtlich so attraktiv, dass das Organisationsteam des Studienkreises um Sascha Trültzsch-Wijnen aus einer hohen Anzahl an Einreichungen auf Grundlage eines anonymen Review-Prozesses ein illustres Programm zusammenstellen konnte. Erwartungsgemäß war dann auch die Tagung bestens besucht. Thematisch begab sich die Konferenz in das weit verzweigte und diskursiv stark nachgefragte Feld der Medienarchive. Welche inhaltlich-technologischen Lösungen finden Archive für die Herausforderungen der digitalen Welt? Welchen Stellenwert haben neue, netzbasierte Speicherkulturen? Wer sind die Gatekeeper in den Archiven, und sind deren Kriterien noch zeitgemäß und funktional? Wie kann die Zugänglichkeit zu Archivmaterialien für Wissenschaftler und andere Nutzergruppen erleichtert werden?

Zum Tagungsauftakt befragte Leif Kramp in seiner Keynote kritisch die aktuellen medienpolitischen Rahmenbedingungen vor allem der öffentlich-rechtlichen Rundfunkarchive in Deutschland. Trotz einiger ermutigender Zeichen, wie beispielsweise die neueren Regelungen (Selbstverpflichtung) über den Zugang für Wissenschaftler zum Archivgut von ARD und ZDF, existieren noch zu viele Barrieren beim regulären Zugang zu AV-Materialien. Rundfunkarchive sollten, so Kramp, nicht nur Arbeitsarchive, sondern auch lebendige Orte für gesellschaftliche Diskurse sein, denn gerade die Bildschirmmedien bilden einen Kern unserer heutigen Weltwahrnehmung. Warum verweigern sich also die Anstalten einer größeren Öffnung ihrer Archive? Neben hinlänglich bekannten Argumenten (Medienprivileg, Kapazitäten, Begehrlichkeiten) läge dies wohl auch daran, dass Wissenschaftler eher eine schwache Lobby in den Medienhäusern besäßen.

Edgar Lerschs Beitrag bildete dahingehend eine gute Gelegenheit, die Position der Archivare besser zu verstehen, indem er Grundzüge der Medienarchivistik (z.B. Provinienzprinzipien, Kontextsicherung uvm.) erläuterte und dafür plädierte, die archivbezogenen Begrifflichkeiten genauer abzuwägen. Drei konkrete Beispiele aus der Praxis waren Gegenstand des zweiten Panels. Susanne Hennings vom DRA setzte sich anhand des Wandels von Bewertungskriterien für die Archivwürdigkeit von Tondokumenten dezidiert mit den Begriffen Speicher- und Funktionsgedächtnis auseinander; zwei Begriffe übrigens, die häufig auf dieser Tagung umherschwirrten. Vielleicht ist dies auch ein Indiz dafür, dass angesichts der Materialschwemme im Netz die Rolle von Archiven teilweise neu zu bewerten ist. Das Archivarische bleibe von hoher Bedeutung, so Hennings, denn die Archivare steuern wesentliche Bewertungskriterien bei, die für die Erinnerungskultur unentbehrlich sind. Einen etwas anderen, nämlich performativ, prozesshaft und akteurszentriert angelegten Zugang zeigte Dagmar Brunow. Sie stellte ein Projekt vor, in dem es um die Erschließung und Sicherung von Beständen alternativer Videokollektive geht. Konkret gemeint sind das Hamburger Medienpädagogik Zentrum (ab 1973), die thede (ab 1980) und bildwechsel (ab 1979). Hier war dann mehr von künstlerischen Strategien, selbstreflexiven Digitalisierungsprozessen und Schwarmsichtung die Rede. Um Aktivität ging es auch Gabriele Fröschl von der Österreichischen Mediathek. Als Kernkompetenz ihrer Einrichtung nannte sie explizit die benutzerorientierte Archivierung von AV-Materialien mit Österreichbezug. Die Mediathek setzt auf netzbasierte Zugänglichkeit und stellte bereits ca. 25.000 Stunden Material online. Mit dem Begriff „Entsammlungsstrategie“ (durch Nicht-Digitalisierung) warf sie einen diskursiven Brocken in den Ring, der mehrfach aufgegriffen wurde. Im Kern geht es dabei einerseits um sinnvolle Digitalisierungsstrategien angesichts einer Obsoleszenz von Trägermaterialien und Abspielgeräten. Andererseits stellt sich aber auch die Frage, wie stetig wachsende Bestände zu differenzieren sind. Nicht-Digitalisierung als bewusste Strategie bedeutet letztlich, Bestände aus archivarischen Nutzungskreisläufen herauszunehmen ohne sie zu kassieren.

Mit dem Ortswechsel der Tagung in den Sendesaal 3 des ORF im Radiofunkhaus wurde Rundfunkhistorie auch sinnlich erlebbar. Um Sinnlichkeit, De- und Re-Kontextualisierungen sollte es dann auch in dem von Uwe Breitenborn moderierten Panel gehen. Mit Christoph Stuehn saß der Direktor von Memoriav auf dem Podium und stellte das Netzwerk für die Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz und sein Online-Informationsportal memobase vor. Ebenfalls ein außerordentlich engagierter Protagonist ist Wolf Harranth, der geschäftsführende Kurator des Dokumentationsarchivs Funk, der das Publikum mit imposanten Zahlen, neuen Dokumentenfunden und einem biografischen Detail zum Sendesaal überraschte. Rüdiger Steinmetz (SLM-Projekt) und Johannes Müske (Broadcasting Swissness) zeigten mit ihren Projekten, wie angewandte Forschungsarbeit mit Archivmaterial funktioniert. Insbesondere das SLM-Pilotprojekt zur Sicherung des audio-visuellen Erbes der lokalen Fernsehveranstalter in Sachsen rief eine angeregte Diskussion hervor.

Das charmante Kamingespräch zwischen Michael Crone und dem Leiter des multimedialen ORF-Archivs Herbert Hayduck nahm einiges von diesen Diskussionspunkten auf und überraschte mit interessanten Details der ORF-Archivarbeit. Nicht nur deutsche Teilnehmer dürften interessiert zur Kenntnis genommen haben, dass im ORF-Archiv eigene redaktionelle Strukturen etabliert wurden, die Archivaren journalistische Herangehensweisen an interessante Themen und Materialien gewähren. Hayduck sprach hier von „neuen Freiheitsgraden“ in der Archivarbeit. Auch die unkomplizierte Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, die einen privilegierten Quellenzugang für das Institut beinhaltet, erstaunte. Archive sind eben auch redaktionelle Orte, so kann das Fazit dieses Gespräches lauten, das zu Füßen eines überdimensionalen Bildschirms mit visuell knackendem Kaminfeuer einen wahrhaft entspannten Eindruck machte. Die produktive und offene Herangehensweise des ORF-Archivs sorgte jedenfalls für einigen Gesprächsstoff beim gemeinsamen Abendessen.

Der zweite Tagungstag stand eher im Zeichen angewandter Forschung und medienhistorischer Miniaturen. So stellte Charlotte A. Lerg in dem von Thomas Ballhausen moderierten Panel Kontextualisierungen in US-Filmen durch die Verwendung historischen Bildmaterials vor, die von „All the president’s men“ bis „Forrest Gump“ reichten. Screen on screen oder ganze Quelleninszenierungen wie bei „Flags of our Fathers“ sind dabei nur einige der angesprochenen Strategien. Mit dem HÖR ZU-Fortsetzungsroman „Suchkind 312“ thematisierte Yvonne Robel anhand eines Beispiels, wie ein populärer Stoff durch diverse mediale Umsetzungen auch neue Bewertungen und inhaltliche Aspekte erfuhr. In diesem Fall reichte der Produktionsbogen von 1954 bis 2007. Sandra Nuy widmete sich anhand des Trotta-Films „Die bleierne Zeit“ dramaturgischen Strategien, wie politische Praxen erzählbar gemacht werden.

In dem von Sascha Trültzsch-Wijnen moderierten Panel zu hybriden TV-Formaten problematisierte Reinhold Viehoff unter anderem einen Rationalitätsschwund der medialen Kommunikation in der Moderne 2.0. Tom Wilke analysierte Fiktionalisierungsstrategien anhand der US-Serie „Rom“ und zeigte, wie Medien ein spekulatives Potenzial entwickeln, in dem sie historische Ereignisse bezeugen und erzeugen. Das spannende, aber leider aus den Sendeprozeduren verschwundene ARTE-Format „Histoire parallèle | Die Woche vor 50 Jahren“ (1989–2002) stellte Jean Christoph Meyer aus Strasbourg vor, der sich in seinen Darlegungen auf den Macher des Formates Marc Ferro konzentrierte. Golo Föllmer schließlich leitete das Panel zu Radio, Sound und neuen Perspektiven im Internet. Christiane Quandt offerierte hier einen hochspezialisierten, literaturwissenschaftlichen Einblick in argentinische Radio-Sounds als fiktionale und dokumentarische Orte in dem Roman „Cómo me hice monja“. Yulia Yurtaeva wartete mit einer lebhaft diskutierten Analyse auf. Sie stellte private Archive als sogenannte Transfer-Quellen vor. Private Internetplattformen sind für viele eine niedrigschwellige Möglichkeit, nach bestimmten Materialien zu suchen. Zumeist betrieben von höchst engagierten Leuten, ermöglichen Sie einen schnellen Zugriff auf Informationen. Aber wie gesichert sind diese im Vergleich zu den etablierten Archiven? Wie sind diese zu bewerten? Kann man diese Quellen wissenschaftlich nutzen? Was können neue Kriterien in der Bewertung dieser Quellen sein? Yulia Yurtaeva hält diese „wilden“ netzbasierten Datenbanken für analysewürdig und plädiert für einen kritischen aber offenen Blick auf diese Plattformen. Die anschließende, teils sehr emotionale Diskussion drehte sich um die Frage, welche Quellen wissenschaftlichen Arbeitens zulässig sind und offenbarte in ihrer Kontroverse auch deutliche Unterschiede in Archiv- und Wissenschaftskulturen.

Das letzte Tagungspanel widmete sich historischen Quellen zur Erforschung von Schule und Alltag, moderiert von Alessandro Barberi. May Jehle bot hier einen Einblick in das Medienarchiv historischer Unterrichtsaufzeichnungen, das ermöglicht, diese Aufnahmen zu sichten und zu vergleichen. May Jehle verdeutlichte das exemplarisch anhand der Vermittlung von Kenntnissen über die russische Revolution und offerierte zwei durchaus obskur wirkende Filmausschnitte, die Unterrichtseinheiten eines Bonner Gymnasiums sowie einer Ost-Berliner POS-Klasse zu diesem Thema gegenüberstellten. Auch hier wurde wieder offensichtlich, wie digitalisiertes und archivarisch aufbereitets AV-Material in wissenschaftlich-analytische Kreisläufe eingespeist werden kann. Lars Müller referierte anschließend über Schulbuchforschung. Clemens Schwender bildete den Abschluss der Tagung. Das Feldpost-Archiv, das in Zusammenarbeit mit dem Technikmuseum Berlin arbeitet, analysiert einen Teil der unfassbar großen Anzahl von Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel, zum Beispiel mentalitätsgeschichtliche Prozesse sowie Erkenntnisse zu Aspekten der Mediennutzung im Zweiten Weltkrieges herauszuarbeiten. Zirka 40 Mrd. solcher Briefe sollen nach Schwenders Angaben in jener Zeit verschickt worden sein.

Was bleibt? Das diskussionsfreudige und angeregte Miteinander dieser Wiener Tagung offenbarte einen außerordentlich lebendigen Studienkreis Rundfunk und Geschichte. Nicht nur dem frisch wiedergewählten Vorstand war die Freude über diesen Erfolg anzumerken. Die Thematik der Medienarchive in ihren vielfältigen Zusammenhängen bot gute Impulse für kommende Tagungen. Vielleicht wird dann auch der eine oder andere Wiener Teilnehmer als neu gewonnenes Studienkreismitglied wieder dabei sein.

Uwe Breitenborn (Magdeburg/Berlin)

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