Internationales Forschungsprojekt zur Radiokultur

Interview mit Dr. Golo Föllmer

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PD Dr. Golo Föllmer, Vorsitzender des Studienkreises „Rundfunk und Geschichte“, leitet seit September an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg das neue internationale Forschungsprojekt „Transnational Radio Encounters. Mediations of Nationality, Identity and Community through Radio“ (TRE). Margarete Keilacker bat ihn um einige Informationen dazu.

Sie leiten das neue internationale Forschungsprojekt „Transnational Radio Encounters“. Können Sie uns zunächst Inhalt und Zweck des Vorhabens kurz umreißen?

Föllmer: Der Ausgangspunkt für TRE ist, dass Radio in der Regel aus nationaler Perspektive untersucht wird, weil ja die Radiosysteme in verschiedenen Ländern recht unterschiedlich sind. Dabei spielen viele Aspekte eine Rolle: historische, ökonomische, rechtliche, strukturelle, oft auch zufällige Entwicklungen. Diese können meist schon aus Zugangsgründen im Nachbarland oder darüber hinaus schlecht beurteilt werden. Das führt dazu, dass komplexe, umfassende Untersuchungen, wenn es nicht um Details geht, in der Regel ganz auf nationale Strukturen ausgerichtet sind.

Wir wollen jetzt mal den Blick komparativ weiten, verschiedene Systeme nebeneinander setzen und das am Gegenstand transnationaler Kontakte tun. Wir haben verschiedene identifiziert: Ein Kontakt zu einem anderen Radio funktioniert zum einen über Programmaustausch, in der EBU ist das gängige Praxis. Dann gibt es die International Services, wie BBC World Service, Deutsche Welle etc., die in ihrer langen Geschichte ihre Ziele durchaus verändert haben. Diese senden ja in das Gebiet anderer Radiostationen hinein und müssen mit den Hörkonventionen im jeweiligen Land vertraut sein. Dann gibt es Fragen dazu, wie Transnationalität auch in einem Land entsteht, wenn Minderheiten, Minorities im fremden Land oder auch für ihr Heimatland Radio machen und wie das mit dem lokalen oder auch dem Radio in der Heimat interagiert. Außerdem kann man noch danach fragen, wie irgendjemand aus verschiedenen Beweggründen Radio anderer Länder hört.

Alle diese Phänomene haben eine ganz lange Geschichte. Das Hören über Grenzen erwähnt schon Rudolf Arnheim als Faszinosum des Radios. Historisch gab es da viele Veränderungen, und die jüngste ist natürlich die Digitalisierung. Auch dazu haben wir im Projekt einen Schwerpunkt gesetzt: Was passiert bei der Digitalisierung, wie gehen die Macher darauf ein, wie hören die Hörer anders, weil sie – sofern sie medienaffin sind – einen grenzüberschreitenden Zugriff auf tausende Sender haben.

Es geht dabei auch um rundfunkpolitische Fragen. Wir wollen deutlich machen, welchen Stellenwert Vielfalt hat, wie Radio grenzüberschreitend wirken kann, dabei noch eine ganz andere Bedeutung in der globalisierten Welt bekommt und welche Rolle auch internationale Öffentlichkeit spielt. Das Radio kann eine transnationale Öffentlichkeit herstellen.

Sie untersuchen also nicht das Gesamtprogramm, beispielsweise, ob dort Beiträge sind, die das Gemeinschaftsgefühl fördern und zum Verstehen fremder Kulturen beitragen, sondern nur solche Beziehungen untereinander?

Föllmer: Dazu, dass in Sendungen grenzüberschreitende politische oder auch kulturelle Probleme erörtert werden, gibt es immer mal Forschungen. Uns geht es konkret darum, inwieweit Sender von ihrer Gesamtkonzeption her schon immer strategisch Aktivitäten gefördert haben, die ein grenzüberschreitendes Sende- und Hörgeschehen betreffen und die in der Regel verschiedene Beweggründe hatten. Da sehen wir eine Polarität: Das eine ist sicherlich, dass in der EU seit langem eine Entgrenzung, die Bildung einer europäischen Identität, vielleicht sogar eine Entnationalisierung und weltweite Völkerverständigung angestrebt wird. Das andere ist aber, dass sich allein schon aus Markterwägungen die Sender in den jeweiligen Ländern bemüßigt sahen, eine nationale Identität weiter zu befördern und fortzuschreiben, um auf einem Weltmarkt der Radiosender, aber auch der politischen Kräfte zur eigenen Stärkung beizutragen.

Wobei die zweite Tendenz ja gegenwärtig sehr stark ist.

Föllmer: Ja, das kann man so sagen.

Warum beziehen Sie sich ausdrücklich auf das Radio? Man hätte ja auch das Fernsehen nehmen können?

Föllmer: Das Radio ist älter und das erste Medium, das genau mit diesem Programm angetreten ist. Ich habe vorhin schon Rudolf Arnheim erwähnt, der hat das hervorgehoben, nicht als seine eigene Idee, sondern es waren die Rundfunkamateure, die vor dem Start des öffentlichen Rundfunks in Deutschland bereits das Grenzüberschreitende als Vorteil des Radios gepriesen haben. Arnheim bezeichnet das als „Kulturimport auf den Flügeln der Welle“. Aus seiner subjektiven Erfahrung berichtet er, wie man italienischem Radio zuhört, dabei diesen Singsang erkennt und damit vielleicht eine Ahnung bekommt, wie so eine fremde Mentalität beschaffen ist und sich ein Bild dieser fremden Kultur zeichnen kann. Im Radio gab es von Anfang an viele transnationale Aktivitäten: Ringschaltungen, Sendeübernahmen usw. kamen durch das Radio, im Fernsehen waren sie später etwas präsenter, der Grand Prix d‘Eurovision ist heute ein Beispiel dafür. In der Gegenwart gehört es zur Praxis, dass ich – unterstützt durch das Internet – grenzüberschreitend Radio höre. Beim Fernsehen habe ich zwar auch einige internationale Sender mit drin, aber es ist nicht das weltweit komplette Angebot wie beim Radio.

In Ihrer Pressemitteilung heißt es, es ginge auch darum, wie Radioprogramme Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit konstruieren. Die „Gegenöffentlichkeit“ leuchtet mir in diesem Zusammenhang nicht ganz ein.

Föllmer: Das bezieht sich hauptsächlich auf den Teil von Peter Lewis und Caroline Mitchell aus England, die das sog. Minority Radio untersuchen, und das ist durchaus in einer Gegenöffentlichkeit angesiedelt, weil es sich um nichtkommerzielle Lokalradios handelt. Das ist in England ja viel weiter gediehen als beispielsweise in Deutschland, gerade startete die nächste Lizensierungswelle. In dem Teilprojekt geht es vor allem darum, in einer breiteren Öffentlichkeit das Bild einer Ethnie zu korrigieren, deren spezifische Belange zum Ausdruck zu bringen und auch politische Forderungen zu äußern.

Damit sind wir schon bei den Einzelprojekten. Wer ist daran beteiligt und wie sieht die Arbeitsteilung aus?

Föllmer: Neben der Martin-Luther-Universität sind die Universität Utrecht aus den Niederlanden (Professor Sonja de Leeuw bzw. Dr. Alexander Badenoch, derzeit Paris), die dänischen Universitäten Aarhus (Associate Professor Per Jauert) und Kopenhagen (Assistant Professor Dr. Jacob Kreutzfeldt), die Metropolitan University (Dr. Peter Lewis) und die University of Sunderland (Caroline Mitchell, beide Großbritannien) an dem Forschungsprojekt beteiligt.

Die Arbeitsteilung sieht so aus, dass das Projekt von Halle aus organisatorisch geleitet und das Geld aus Brüssel von hier aus auch verteilt wird.

Von Halle her koordinieren wir auch die Events: Geplant sind drei große Workshops in Genf, Berlin und Kopenhagen sowie eine Abschlußkonferenz in Hilversum. Wir organisieren auch umfangreiche Maßnahmen des Wissenstransfers. Ein wesentlicher Teil solcher EU-Projekte ist nämlich, dass man – im Unterschied zu DFG-Projekten – seine Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit kommuniziert. Deshalb haben wir auch eine große Anzahl sog. Non-academic Partners, d.h. nichtakademische Einrichtungen, die dafür sorgen werden, dass beispielsweise Radiosendungen entstehen. Neben dem Deutschen Rundfunkarchiv ist u.a. auch Deutschland Radio Kultur mit im Boot. Sie werden weitgehend autonom dafür sorgen, dass Sendungen mit Teilergebnissen produziert werden, die für die Öffentlichkeit interessant sind.

Am Ende soll auch eine Ausstellung mit den Ergebnissen unserer Forschungen im Museum Beeld en Geluid, dem großen Rundfunkmuseum in Hilversum, entstehen. Wir errichten auch eine Wissensdatenbank, die sich nicht nur an Forscher wendet, die sich mit Rundfunk befassen, sondern breiter aufgestellt ist, auch neue Forschungsmethoden sollen dort präsentiert werden.

Können Sie diese neuen Methoden genauer erläutern?

Föllmer: Wir wollen zum einen gewisse vorhandene theoretische Ansätze für das Projekt nutzen, die für die Radioforschung Neuigkeitswert haben. Einer, der aus der Ethnologie/Antropologie kommt, in der Radioforschung aber noch keinerlei Bedeutung hat, ist Benedict Andersons Konzept der Imagined Communities, der imaginierten Gemeinschaften. Ein sehr bedeutendes Konzept und schon lange diskutiert. Er beschreibt damit, dass Nationalstaaten mit fixen Grenzen, wie wir sie heute kennen, erst vor ca. 200 Jahren die Feudalstaaten abgelöst haben. Vorher lag die Orientierung, wozu jemand gehört, eigentlich am Feudalherren oder an Religionszugehörigkeiten, aber nicht daran, dass irgendwer mal eine Linie in den Sand gezeichnet hatte. Es war damals ganz normal, dass sich Grenzen immer wieder verschoben. Die Folgen der fixen Grenzen spüren wir bis heute, beispielsweise, wenn es um Ausländer geht. Wie man so ein nationalstaatliches Kontrukt unter den gegenwärtigen Bedingungen der Mobilität aufrecht erhalten kann, ist gegenwärtig problematisch. Wir glauben, dass man das auf das Radio anwenden kann, es dann besser versteht und somit die Radioforschung in neue Diskurse bringt. Wir versprechen uns von diesem neuen Ansatz – wie es oft in der Wissenschaftsgeschichte war – neue Ergebnisse und Diskurse.

Der andere, mehr methoden-praktische Ansatz betrifft die Frage – in dem Teilprojekt, das ich mache – wie die ästhetische Gestaltung von Radioprogrammen die Identität bzw. die Identifikation eines Senders ausmacht.

Bleiben wir bei Ihrem Teilprojekt.

Föllmer: Wir wollen untersuchen, wie der Sound, die Ansprechhaltung der Moderatoren etc. die Senderidentität ausmacht und wie Sendeelemente miteinander gemischt werden. Dazu gibt es bisher so gut wie keine Forschungen. Es ist ein Vorhaben, an dem ich in einem interdisziplinären Projekt – in Deutschland und etwas darüber hinaus – auch schon länger arbeite.

Wir wollen das mit ethnografischen Methoden, Tiefeninterviews und teilnehmender Beobachtung im Produktionskontext untersuchen. Also auch bei bestimmten Tätigkeiten zusehen, um dann zu fragen, wie machst Du das eigentlich, warum triffst Du bestimmte Entscheidungen so und nicht anders. Wieso passt das zu diesem Sender und nicht zu einem anderen. Dann haben wir Laborstudien vor, um zu erforschen, bei welchen Parametern es anfängt, sich nicht mehr anzuhören wie der Ursprungssender, sondern wie ein anderes Format. Beipielsweise kann man mit bestimmten technischen Tools Tonhöhen usw. so modellieren, dass ein Moderator, der bei MDR Sputnik, einem Jugendsender, gesprochen hat, so klingt wie beim Kultursender MDR Figaro oder MDR Info.

Was hat das mit fremden Kulturen zu tun?

Föllmer: Uns interessiert dabei, wie sich eine Senderidentität ästhetisch-gestalterisch auszeichnet, welche Parameter national-typisch sind, d.h. aus einem Kulturkreis motiviert, und welche allgemeingültig? Wenn bei einem bestimmten Format, beispielsweise Inforadio, viele Ausprägungen im internationalen Bereich gleich sind, kann man fragen, woher das kommt, z.B. daher, dass einer mal einen Standard (vielleicht die BBC in England) gesetzt hat. Oder gibt es vielleicht auch allgemeine Kennzeichen, die einfach radiotypisch sind und damit das Radio konstant von anderen auditiven Gestaltungsweisen, etwa im Film oder im Fernsehen, abheben.

Welche Sender werden einbezogen?

Föllmer: Das ist noch nicht festgelegt. In der Planungsphase ist man sicher gut beraten, sich solche Fragen offen zu halten. Wir werden auf jeden Fall versuchen, führende Sender in Deutschland aus verschiedenen Formatsparten zu untersuchen. Da wir in Halle sitzen, ist der MDR ein nahe liegender Partner, zu dem wir auch schon gute Kontakte haben. Es sind natürlich noch andere Sender möglich. Dann gibt es Vergleichswellen im europäischen Raum. Da werden wir nach London, Kopenhagen, Madrid, Hilversum und Paris gehen. Da möchte ich mich aber noch nicht festlegen.

Wie viele Mitarbeiter können Sie sich denn leisten?

Föllmer: Ich kann mir sehr wenige Mitarbeiter leisten. Im Prinzip nur mich. Das war anders geplant, aber ich werde die Forschungen nun fast alleine realisieren. Es gibt aber eine ganze Reihe von Zuarbeiten (Magisterarbeiten, Dissertationen), da ich das Projekt Radioästhetik/Radioidentität schon seit längerer Zeit betreibe. Und ich habe zwei hochkompetente Hilfskräfte.

Welche Rolle soll das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) spielen?

Föllmer: Archivzugang ist beispielsweise ganz wichtig für die Frage, welche strategischen Ideen hinter transnationalen Aktivitäten stecken. Da muss man in die entsprechenden Protokolle, Richtlinien, White Papers etc. reinschauen. Und wir brauchen Archive auch zum Auffinden von Mitschnitten.

Da wollen wir aber nicht nur eine Service-Leistung. Das DRA ist einer unserer Non-academic Partner, deshalb bieten wir an, dass sich ein geplanter Workshop ausschließlich mit Archiven befassen wird, um mal zu vergleichen, wie der Zugang in verschiedenen Ländern geregelt ist, welche innovativen Veränderungen und welche Entwicklungsmöglichkeiten es dazu in der letzten Zeit gab und gibt. Auch die Initiative audiovisuelles Erbe (vgl. RuG 1/2-2013) würde ich hier gerne einbinden. Dabei geht es auch um rechtliche Fragen.

Das Projekt wird von HERA (Humanities in the European Research Area) gefördert. Wer ist das? Und wo kommen die finanziellen Mittel dafür her?

Föllmer: HERA ist ein Projekt, das ganz explizit die Forschung und Vernetzung der Geisteswissenschaften im Euro-Raum fördert. Es ist lange schon ein Politikum und für viele ein Ärgernis, dass die Naturwissenschaften wesentlich höhere Mittel erhalten als die Geisteswissenschaften, denen erhebliche Hürden aufgebaut wurden. HERA ist nun eine Initiative der Forschungsministerien verschiedener Länder, die Gelder in einen Topf geworfen haben, um diese zu fördern. Aber auch, um stärker in die Öffentlichkeit zu kommen und zu demonstrieren, welchen Nutzen geisteswissenschaftliche Forschungen haben. Das ist auch ein Grund, warum der Wissenstransfer so groß geschrieben wird. Im Moment sind im HERA-Programm noch nicht alle EU-Staaten vertreten, und nur aus den Staaten, die derzeit mitmachen (d.h. einzahlen), dürfen sich auch Forscher bewerben. Das Projekt läuft seit fünf Jahren und im zweiten Durchgang ist nun auch Deutschland dabei und hat offenbar eine hervorragende Förderquote erlangt.

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