Folgen der Disruption. Worauf wir uns einstellen

Erfahrungen aus dem Studienkreis

Lesezeit: ca. 18 Minuten

Drucken

Die Corona-Pandemie hat die Welt in eine Krise auf vielen unterschiedlichen Ebenen gestürzt. Und wie es mit Krisen meist der Fall ist, trifft sie nicht alle Menschen gleichermaßen hart, sondern führt zu einer Verstärkung sozialer Ungleichheiten.

Auch wenn es an spekulativen Diskursen nicht mangelt: Die Langzeitfolgen lassen sich bislang nur sehr vage ermessen, in medizinischer wie auch in ökonomischer Hinsicht. Genauso wenig abzuschätzen sind die kulturellen Folgen, die Veränderung von Kommunikation oder von Praktiken der Gemeinschaft. Wir richten uns mithilfe von Szenarien ein, die mal optimistischer, mal pessimistischer ausfallen, die uns aber zumindest mit einem gewissen Maß an Handlungsfähigkeit ausstatten.

Die Redaktion hat im letzten Heft dazu aufgerufen, kurze Berichte dazu einsenden, welche Umstellungen Sie in Ihren Arbeitsfeldern erleben und auf welche längerfristigen Veränderungen Sie sich einstellen. Und es ist sicherlich als ein erfreuliches Zeichen zu werten, dass nur wenige Zuschriften eingegangen sind. Wir hoffen, dass wir diesen Umstand als einen Hinweis darauf sehen können, dass es Ihnen an den Universitäten und Forschungseinrichtungen, in den Archiven und Rundfunkanstalten alles in allem gut geht, dass Sie nicht zu denjenigen gehören, die sich vor schier unlösbare Herausforderungen oder gar existenzielle Nöte gestellt sehen.

Bei verschiedenen persönlichen Nachfragen kam denn auch heraus, dass die direkten Auswirkungen der Pandemie auf die jeweiligen Tätigkeiten recht überschaubar sind. In Archiven nehmen die Anfragen per Mail zu, werden Archivalien digitalisiert – doch diese naheliegenden Entwicklungen sind sicherlich keine Reaktionen auf Corona. Und bei universitären Forschungsarbeiten ist – je nach Stand der Forschungsarbeit – Isolation ja sogar eher förderlich.

Es gibt aber auch Anzeichen für Verän­derungen, Umorientierungen, Anpassungen. Die folgenden drei Berichte in diesem Forum thematisieren, teils aus recht persönlicher Perspektive, worauf wir uns einstellen müssen und können, und zwar in den Bereichen der rundfunkgeschichtlichen Forschung, der universitären Lehre und der medienpolitischen und journalistischen Praxis.

Unser herzlicher Dank geht an diejenigen, die sich gemeldet und uns ihre Erfahrungen mitgeteilt haben. Wenn Sie weitere Berichte zu den Folgen von und Anpassungen an die Pandemie einsenden wollen, schreiben Sie gern an die Redaktion unter kiron.patka@uni-tuebingen.de.

Promotion zur Pandemiezeit. Bilanz eines Doktoranden

Stephan Summers

Berichte der letzten Monate kreisten um Begriffe wie „Stunde Null“ (FAZ/WDR) und „Coronarealität“ (TAZ), Politiker*innen sprachen von einer „neuen Normalität“. Die Covid-19-Pandemie hat alle Bereiche des öffentlichen Lebens und somit auch die wissenschaftliche Forschung und Lehre an Universitäten, Forschungseinrichtungen und – nicht zuletzt – im Rundfunk getroffen. Auch wenn sich Forscher*innen, die sich mit rundfunkhistorischen Themen beschäftigen, nun mit vergleichbar geringen Problemen konfrontiert sahen, so mussten sie sich dennoch auch in diesen Arbeiten mit ihren vielfach verzweigten Tätigkeitsfeldern und -orten auf die veränderte Situation neu einstellen. Dies hat zur vielbeschworenen Wiederentdeckung der Kreativität geführt, eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten werden inzwischen nahezu ausschließlich mit ‚digitalen‘ Mitteln kompensiert und Bibliotheken stocken ihre elektronisch-verfügbaren Bestände auf. Sieben Monate nach dem sogenannten ‚Lockdown‘ nehme ich gerne die Gelegenheit wahr, eine persönliche Bilanz aus der Sicht eines musik- und medienhistorischen Nachwuchswissenschaftlers zu ziehen.

Die bereits im Call erwähnten Digitalisierungsbemühungen scheinen vor dem Hintergrund der Pandemie noch stärker an Dringlichkeit gewonnen zu haben. Sie stellen Forscher*innen darin aber vor zwei Extreme, indem diese nun je nach Stand der archivarischen Digitalisierung entweder über alle oder über gar keine Quellen verfügen, auf die von Fern zugegriffen werden könnte. So stehe ich auch bei meinem eigenen Dissertationsvorhaben vor der Herausforderung, dass noch einige Arbeiten in Archiven ausstehen, die für externe Besucher*innen weiterhin geschlossen sind und es auf absehbare Zeit auch bleiben werden. Ebenso trifft dies auf noch nicht digitalisierte Archivbestände im Ausland zu, die nun für das aktuelle Vorhaben keine Rolle mehr spielen können. Gleichzeitig bilden einige ‚remote‘-zugängliche Quellen nun eine ausgezeichnete Möglichkeit, meine Projekte fortzuführen, ohne große Veränderungen an Umfang und Detailgrad vornehmen zu müssen. Beispielhaft ist hier die Digitalisierungsinitiative des SWR im Winter 2019/2020 zu nennen. Ob sich hierdurch aber evtl. eine Neugewichtung bestimmter Themen innerhalb meiner Dissertation ergeben wird, muss sich noch zeigen, da sich durch eingeschränkte Archivzugänge jetzt auch innerhalb meines gesamten Quellenkorpus die Verhältnisse einzelner Bestände zueinander verändern können.

Insgesamt zeichnet sich aber schon jetzt durch die Arbeit mit digitalisierten Quellen eine Veränderung des wissenschaftlichen Zugriffs ab, die sich – mit Hartmut Rosa und Andreas Rödder gesprochen – als ‚Beschleunigungsparadox‘ beschreiben lässt: In den Fällen, in denen digitalisierte Quellenbestände vorliegen, deckt sich die exponentielle Steigerung an nutzbaren Daten (d. h. digitalisierte Archivalien) nicht in gleichem Maße mit dem erreichten Zeitgewinn. Da angesichts der aktuellen ‚Coronarealität‘ die Verfügbarkeit von Quellen nun teilweise digital wiederhergestellt werden kann, scheint auch der Anspruch an die Forscher*innen zu steigen, einen deutlichen größeren Quellenkorpus für die eigene Arbeit nutzbar zu machen, als es sonst möglich gewesen wäre. In jedem Fall wirft die aktuell veränderte Situation ein Schlaglicht auf die Rundfunkarchive und ihre herausragende Bedeutung als Wissensspeicher für die Erforschung von medien- sowie musikhistorischen Fragestellungen.

Digitale Reaktionen auf die aktuellen Einschränkungen werfen ihren Schatten allerdings noch weiter auf wissenschaftspragmatische Bereiche, die in Forschungsdiskursen oft nicht thematisiert werden: Sofern Archivalien digital vorliegen, müssen jetzt zwar weit weniger mehrtägige Archivaufenthalte an verschiedenen Standorten in ganz Deutschland in Zeitplänen berücksichtigt werden. Allerdings haben Erfahrungen auch gezeigt, dass sich häufig erst während der Arbeit im Archiv an konkreten Quellen Forschungsfragen ergaben und die Existenz weiterer relevanter Bestände erst im direkten Austausch mit Archivar*innen vor Ort bekannt wurde. Weitere solcher Momente finden sich im spontanen Austausch in ‚Flurgesprächen‘ am Arbeitsplatz, in Bibliotheken und in Archiven, die erst langsam wieder möglich werden, wie auch insbesondere im Rahmen von Tagungen und Seminaren. Diese erhalten nun meist nur im Sonderfall das Attribut „Präsenz“ – „digital“ ist insofern schon ein gutes Stück des Weges hin zum ‚neuen normal‘ geworden. An ihnen scheint der kritisierte Begriff des ‚social distancing‘ noch am Ehesten Anwendung zu finden, was Rosa als Defizit- und Entfremdungserfahrung beschreibt. Die Filmwissenschaftlerin Kristina Köhler formulierte diese als Diskrepanz von physischer Distanz und digital erlebter Intimität, die sich meist durch Settings in privaten Räumen, Nahaufnahmen und mikrofonierte Sprechgeräusche zeitigte. Entsprechend blieb es bei digitalen Tagungen häufig entweder bei einer oberflächlichen Begegnung und somit einem in gewisser Weise anonymen wissenschaftlichen Austausch oder es musste über mehrere Tage eine wahrgenommene Barriere abgebaut werden.

Auch wenn m. E. die Verlagerung des persönlichen Austauschs sowie nahezu sämtlichen wissenschaftlichen Handelns von öffentlichen Räumen in die Privatsphäre in den letzten Monaten mit Verlusten verbunden war, so will ich auch hervorheben, wie schnell funktionierende digitale Tagungs- und Seminarkonzepte entwickelt wurden und erfolgreich umgesetzt werden konnten. In kürzester Zeit sind verschiedene Systeme etabliert worden, die bereits in weiten Teilen der wissenschaftlichen Community Anwendung finden. Perspektivisch würde ich mir eine Begrenzung des jetzt schon umfangreichen Repertoires wünschen und darauf abzielen, eine größtmögliche Kompatibilität zwischen In­stitutionen und Fächern herzustellen. Nichtsdestoweniger haben hier digitale Realisierungen eine größere Flexibilität eingeführt, die sich auf mehreren Ebenen bemerkbar macht: Im Rahmen von Tagungswochen werden Räume für anderweitige Unternehmungen im privaten Rahmen geöffnet und das parallele Weiterarbeiten an eigenen Projekten ermöglicht. Gleichzeitig steht die aktive Teilnahme an internationalen Konferenzen Forscher*innen aus der ganzen Welt offen, ohne dass dabei Flugzeugreisen die CO2-Bilanz von Tagungen sprengen – ein Punkt, der 2020 mitgedacht werden könnte.

Abschließend bleiben für mich die folgenden Fragen unbeantwortet: Welche Maßnahmen sind temporär, welche werden sich auch dauerhaft einen Platz in der wissenschaftlichen Praxis sichern? Wenn nun digitale Strukturen zunehmend geschaffen werden und sich in der Breite etablieren, kann dies dann auch zukünftig ausgebaut und als Modell beibehalten werden oder befinden wir uns gerade nur in einem kleinen, krisengebundenen Zeitfenster, in dem Veränderungen der Wissenschaft (und der Lehre) noch umgesetzt werden? Wie verändert sich das Arbeiten mit Archivalien und in Archiven in der Zukunft? Vermutlich wird dies nur im Rückblick zu beantworten sein. Mittelfristig – möglicherweise aber auch als belastbares Modell darüber hinaus – hoffe ich auf mehr hybride Formate und Zugriffsoptionen, die Gelegenheit zum Kennenlernen und Austausch bieten bzw. die Entdeckung von Neuem in Archiven und die Arbeit vor Ort an Quellen weiterhin erlauben.

Lehre als Rundfunk. Hallo und herzlich willkommen im Corona-Semester!

Kiron Patka

Die akademische Lehre hat ihre eigene Zeitlichkeit und ihren eigenen Rhythmus. Die Grundeinheit dieses Rhythmus’ ist das Semester; in der Logik dieser Zeitrechnung befinden wir uns nun im „2. Corona-Semester“. Aus der im Frühjahr 2020 oft bemühten Bezeichnung „Ausnahmesemester“ ist nun also eine zählende und damit auf Zukunft ausgerichtete Redeweise, aus dem Sonderfall ist eine Reihe geworden.

Als im März die Schulen praktisch von einem Tag auf den anderen ihre Türen schließen und den Unterricht im Hauruckverfahren in das digitale Netz verlagern mussten, befanden wir uns an den Universitäten gerade in der vorlesungsfreien Zeit. Wir hatten also ein klein wenig mehr Zeit, uns auf das „Ausnahmesemester“ einzustellen. Die dann umgesetzte Ad-hoc-Version des digitalen Unterrichtens wurde schnell mit dem Begriff „Emergency Remote Teaching“1 belegt, einem Begriff, der wohl vor allem die Funktion hatte, das Image von ‚richtiger‘ Online-Lehre zu schützen. Doch immerhin: Eine von unserer Fachschaft durchgeführte Befragung der Studierenden zog am Ende des Semesters eine größtenteils positive Bilanz. Positiv vor dem Hintergrund der Umstände freilich, mit anderen Worten: Es lief besser als befürchtet.

Diese „Umstände“ und die mit ihnen verbundenen Herausforderungen waren vielfältig, für Lehrende und Studierende gleichermaßen. Auf beiden Seiten gibt es Eltern mit Erziehungsverantwortung, Personen mit Pflegeaufgaben in der Familie; psychische und mentale Überlastung; räumliche Einschränkungen im Homeoffice und viele andere Herausforderungen mehr. In einem meiner Seminare waren die Studierenden geografisch verstreut von Südamerika bis Südost-Europa – der Lockdown erwischte manche, bevor sie von ihrem Familien oder aus dem Urlaub wieder zurückkehren konnten, und die Zeitverschiebung verlangte zusätzliche Kompromissbereitschaft von allen Seiten. Auch eine ausreichend leistungsfähige technische Ausstattung war und ist für viele nicht selbstverständlich; dazu gehört vor allem eine Internetverbindung, die es mehreren Personen im Haushalt oder in der WG erlaubt, gleichzeitig an Videokonferenzen teilzunehmen. Diese und viele andere Probleme sind ja bekannt und finden sich nicht nur in der akademischen Lehre. Das Maß an Erschöpfung, das ich bei meinen Kolleginnen und Kollegen zum Ende des Semesters beobachten konnte, war um einiges höher also sonst.

Klar ist inzwischen, dass auch das „2. Corona-Semester“ weitgehend digital und ‚remote‘ stattfinden wird. Für die Vorbereitung blieb nun etwas mehr Ruhe; dennoch: Für eine intensive Einarbeitung aller Lehrenden in das, was Expert*innen der Hochschuldidaktik als eine sinnvolle Digitalisierung der Lehre auffassen würden, reichte die Energie oft nicht. Die besondere Herausforderung dieses Semesters besteht nun darin, dass wieder ein neuer Jahrgang an die Universitäten und Hochschulen kommt, Studienanfänger, für die jetzt das Abenteuer Studium beginnen soll. Sie werden ihre akademische Sozialisierung also mit einem Corona-Semester beginnen und – für viele in Kontinuität mit ihrer Schulerfahrung aus dem Frühjahr – voraussichtlich viel Zeit in Videokonferenzen verbringen. Sie dennoch in die akademische Welt der Wissenschaft einzuführen, ihnen zu vermitteln, was Universität in ihrem Kern ist, was Uni-Seminare von Schulunterricht unterscheidet, darin zeigt sich nun eine ganz neue Herausforderung. Damit ist unmittelbar die Frage angesprochen, was denn akademische Lehre überhaupt im Kern ausmacht und worin sie sich von anderen Bildungsangeboten unterscheidet.

Meine persönliche Sichtweise ist hierbei weniger auf Distinktion ausgelegt, sondern auf Austausch. Nach meinen ersten Gehversuchen mit reiner Online-Lehre erscheint es mir gewinnbringend zu fragen, was wir als Lehrende vom Rundfunk, aber auch von Youtubern und Podcasterinnen lernen können. Bei der Produktion von „asynchronen Lehrinhalten“ als Video oder Audio ist mir zumindest immer wieder die Nähe zu den alten und neuen Rundfunkmedien aufgefallen. Die selbständige Produktion von Vorlesungen als Video weist frappierende Parallelen zur Fernsehpraxis auf. Überlegungen und kollegiale Diskussionen zur Dramaturgie, zur Ästhetik, zur technischen Machbarkeit vermischen sich mit den eigentlichen didaktischen Diskursen. Wir stehen vor den gleichen Problemen, die in der Rundfunkgeschichte schon dokumentiert sind, Fragen der mediengerechten Sprache und des Sprechens bei abwesendem Publikum, Fragen der Inszenierung von talking heads und der Bildgestaltung (ein Kollege hat sich sogar einen Greenscreen fürs Homeoffice gekauft), Fragen der Lichtführung und der Mikrofonierung. Ein Stück weit kommt es mir so vor, als befänden wir Dozentinnen und Dozenten uns in einem Crashkurs für TV-Produktion, jeweils in Personalunion als Dramaturg*in, Autor*in, Regisseur*in, Moderator*in, Kamerafrau*, Tontechniker*in und Cutter*in – manchmal auch als Live-Bildmischer*in. Der Stundenplan wird zum Programmschema, das synchron gehaltene Seminar zur Live-Sendung. Nicht zuletzt erinnert die Periodizität typischer Seminare an die Logik der TV-Serie.

Oft, ich würde sagen: zu oft dient das Fernsehen dabei als einziges Modell für digitale Lehrangebote. Die Gefahr beim Modell Fernsehen besteht darin, einer Ästhetik nachzueifern, die mit den vorhandenen Ressourcen kaum umzusetzen ist; was dabei herauskommt, erinnert schnell an die Telekolleg-Sendungen der 1980er Jahre. Gleichzeitig verzweifeln Kolleginnen und Kollegen an ihrem Perfektionismus, bei dem Versprecher genauso inakzeptabel erscheinen wie harte Schnitte. Dass die visuellen Medienerfahrungen der Studierenden sich längst nicht mehr vorrangig an der Fernsehästhetik einüben, können wir allzu gut ausblenden.

Auch die Möglichkeit der „Audio-Lectures“ nach dem Vorbild von Radiofeatures oder Podcasts gerät nur selten in den Blick. Hier stellen sich ähnliche Herausforderungen wie bei den Lehrvideos. Studierende haben zurückgemeldet, dass sie die Form des „Lernpodcasts“ deswegen als positiv erleben, weil sie ihnen eine wertvolle bildschirmfreie Zeit bescheren kann.

Meine Lehre aus der digitalen Lehre ist die (zugegeben nicht neue) Erkenntnis, dass Lehre schon immer medial ist; eine Form multimodaler Kommunikation in gezielt zugerichteten Dispositiven (zu denen beispielsweise die Architekturen des Seminarraums gehören). Der mediale Wechsel aus einem analogen in einen virtuellen Raum kennt historische Blaupausen zu Genüge. Sich digitale Lehre als Rundfunk vorzustellen, kann dabei ein neues Set an Kriterien an den Tag legen, die in der analogen Lehre nicht immer selbstverständlich sind: vor allem eine Adressatenzugewandtheit, die die jeweiligen Rezeptionsumstände und die Medienrealitäten der Studierenden ernst nimmt. Im Sinne Brechts ist die digitale Lehre womöglich gar der bes­sere Rundfunk, wenn die Lecture schließlich in eine Diskussion mündet und die inzwischen ausreichend zur Verfügung stehenden Tools als Kommunikationsapparate zum Einsatz kommen.


1 Der Begriff stammt aus einem in der amerikanischen Zeitschrift EDUCAUSEreview erschienen Artikel und wurde auch im deutschen Diskurs um akademische Lehre aufgegriffen; vgl. Charles Hodges et al.: The Difference Between Emergency Remote Teaching and Online Learning. EDUCAUSE­review, 27. März 2020.

Senden trotz abrupter Entschleunigung. Die ARD zu Beginn der Corona-Pandemie

Christoph Rosenthal

Wenn Historikerinnen und Historiker in ein paar Jahrhunderten auf das Frühjahr 2020 zurückblicken, so mutmaßt der Soziologe Hartmut Rosa, sei es sehr wahrscheinlich, „dass Covid-19 und die Reaktion darauf auch dann noch als ein gewaltiger und überraschender Einschnitt wahrgenommen wird. Nach zwei Jahrhunderten nahezu ungebrochener Beschleunigung und Dynamisierung bremst die Welt plötzlich ab, sie wird in ihrer materiell-physischen Bewegung abrupt langsamer.“1 Innerhalb kürzester Zeit sind Reisen stark eingeschränkt, Straßen und Büros fast menschenleer, Veranstaltungen und Konferenzen entfallen. Im Zentrum des Interesses steht ein Virus, das weder zu sehen noch zu hören ist. Keine Idealbedingungen für Journalistinnen und Journalisten, die aufzeigen, aufzeichnen, aufklären sollen. Doch genau diese Aufgaben sind in der Krise gefragter denn je.

Der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist, „die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen“. So steht es im Rundfunkstaatsvertrag. Während der Corona-Pandemie wird besonders plastisch, was das bedeutet: Politische Entscheidungen nicht nur bekannt machen, sondern auch hinterfragen und einordnen. Zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen, selbst wenn das Gebot der Stunde „social distancing“ lautet. Kunst und Kultur pflegen, obwohl Spielstätten geschlossen werden müssen. Um die Vielzahl dieser neuen Anforderungen bewältigen zu können, ist ein gemeinsamer Kraftakt nötig: der Pandemie-bedingten Entschleunigung eine nicht minder radikale Beschleunigung des eigenen Betriebs entgegenzusetzen. Eine solche Phase durchlebt im ersten Halbjahr 2020 die gesamte ARD.

Zunächst muss Grundlegendes geklärt werden: Während sich Daheimbleiben zur obersten Maxime der Gefahrenprävention entwickelt, können Reporterinnen und Reporter dieser Empfehlungen von Berufs wegen nicht folgen. Sie und ihre Teams müssen rausfahren – zur Intensivstation des örtlichen Krankenhauses, zu Geschäftsleuten, die ihre Läden schließen müssen, zu Seniorenresidenzen und Forschungsinstituten sowie in die internationalen Krisenherde von New York bis Nairobi.2 Sie dabei bestmöglich zu schützen wird zur Herausforderung für alle Gewerke: Masken müssen beschafft, Technik bereitgestellt werden. Krisenstäbe erarbeiten Konzepte und passen sie kontinuierlich der Lage an. Wie wird derweil die Kinderbetreuung sichergestellt? Dass Medienschaffende „systemrelevant“ für Deutschland sind, muss dazu erst amtlich bescheinigt werden – für den redaktionellen und den technischen Bereich.

Ein Radioreporter hält das Mikrofon mit einer Tonangel weit von sich weg

Tonangeln bekommen zu Corona-Zeiten eine völlig neue Bedeutung. Foto: Annika Fußwinkel/WDR.

Die programmunterstützenden Bereiche werden soweit möglich ins „Homeoffice“ verlegt. Neue Software wird dazu binnen Tagen ausgerollt und lässt verstreute Teams zusammenrücken; neue Hardware muss beschafft und eingerichtet werden. Abteilungen organisieren sich neu und spiegeln ihre Kompetenzen in sich abwechselnde Teil-Mannschaften, um Quarantäne-bedingtem Totalausfall vorzubeugen. Improvisationstalent ist gefragt: Wie kann ich zu zweit im Schneideraum arbeiten? (Plexiglas-Aufsteller machen es möglich.) Wie komme ich ohne Infektionsgefahr an O-Töne? (Mikrofon-Angeln bekommen eine völlig neue Bedeutung.) Wie kann ich trotz personell reduzierter Redaktionen die aktuelle Berichterstattung noch intensivieren? (Im Wechselspiel mehrerer Landesrundfunkanstalten, die sich gegenseitig ergänzen.)

Die ARD-Korrespondentin Christiane Meier (l.) führt ein Interview in New York – mit dem gebotenen Sicherheitsabstand. Foto: WDR.

Die föderal organisierte ARD kann in dieser Lage ihre große Stärke nutzen: Die Mitarbeitenden sind ohnehin in allen Regionen vor Ort. Die Häuser entlasten und stützen sich gegenseitig mit Beiträgen, Erfahrungsberichten und Kapazitäten.

Die Krise beschleunigt Entscheidungsprozesse. Auf einmal sind neue Formate on air: Die Sondersendung „ARD Extra“ wird bald nach der Premiere am 10. März 2020 zum verlässlichen Begleiter für durchschnittlich 8 Millionen Menschen. Der NDR zögert nicht, das tollkühne Ansinnen eines täglichen Langformats an den Virologen Christian Drosten heranzutragen – und wird mit einer postwendenden Zusage belohnt. Der rbb bringt eine „Carmen“-Aufführung in die Wohnzimmer der Kulturbegeisterten, als die Staatsoper Unter den Linden ihre Türen schließen muss. Und der BR lässt keinen einzigen Tag verstreichen, als am 16. März 2020 die Schülerinnen und Schüler nach Hause geschickt werden: Er springt mit „Schule daheim“ über ARD-alpha und die Mediathek in die Bresche.

Die Erfahrung der Dynamik, der über Bord geworfenen Gewissheiten, der Leistungsfähigkeit in Krisenzeiten und der Anerkennung des eigenen Tuns wird die ARD wohl noch lange tragen und prägen. Das Format „ARD Extra“ hat sich bewährt und wird zukünftig auch bei anderen besonderen Lagen zum Einsatz kommen. Längere Interviewformate gewinnen an Popularität – im Bereich des Wissenschaftsjournalismus und darüber hinaus. So manche Kolleginnen und Kollegen stellen erstmals fest, wie ergiebig Videokonferenzen sein können – und behalten diese Form des Austauschs bei. Andere sind überrascht vom Erfolg vertiefender Bildungsangebote und der Information in Radio und TV: Im Frühjahr schalten bis zu viermal so viele 14- bis 20-Jährige wie üblich die Tagesschau ein – und zwar ganz klassisch um 20 Uhr im Fernsehen.3 Auch wenn sich das Sehverhalten nun wieder normalisiert, wird doch deutlich: Der lineare Rundfunk lebt. Digitale Angebote etablieren sich derweil stetig.4 Prägend bleibt auch die Erfahrung des Zusammenhalts mit externen Partnerinnen und Partnern: Als sich erste Drehstopps abzeichneten, spannte die ARD in kürzester Zeit einen Schutzschirm für Produzierende auf. Die Mehrbelastung durch Corona schultern Sender und Produktionsfirmen dann gemeinsam – ein Modell, das über Monate wieder und wieder verlängert wird, da alle Kreativen über längere Zeit hinweg „auf Sicht fahren“ müssen.

„In dieser Lage kommt das zum Tragen, was Hannah Arendt als die Natalität des Menschen identifiziert hat: Sie meint damit die Fähigkeit, als kreativ handelnde Akteure eingespielte Pfade zu verlassen, geltende Reaktionsweisen und -ketten außer Kraft zu setzen und genuin Neues hervorzubringen“, konstatiert Hartmut Rosa im bereits zitierten Essay. Diese Art der Kreativität und des permanenten Neuanfangs ist in Krisenzeiten unabdingbar. In der ARD ist sie in diesen Tagen allerorten zu spüren – und das im 70. Jahr ihres Bestehens.


1 Hartmut Rosa: Wir können die Welt verändern. In: Die ZEIT, Nr. 19 vom 29. April 2020, Christ & Welt, S. 1.
2 In der gleichnamigen Dokumentation berichten die Korrespondentinnen und Korrespondenten Gudrun Engel, Norbert Hahn, Christiane Meier, Sabine Rau, Nicole Rosenbach, Ina Ruck und Ellen Trapp eindrucksvoll von ihren Erlebnissen und Arbeitsbedingungen zu Beginn der Pandemie: „Von New York bis Nairobi – Corona in meiner Stadt“, ESD: 3. Juni 2020, WDR, verfügbar in der ARD Mediathek.
3 So geschehen am 22. März 2020. Details und weitere Daten zum „Public Value der ARD in Zeiten von Corona“ stehen online.
4 Eine Deloitte-Befragung ergab, dass knapp ein Drittel der Zuwächse aus der Zeit der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen als nachhaltiger Effekt erhalten blieben. Während sich die Nutzung klassischer Angebote stärker normalisiert, konnten digitale Medienangebote dauerhafte Steigerungen feststellen.

Comments are closed.