»Bei uns im Funk«

Jürgen Eggebrecht 1949–1959: Ein in Vergessenheit geratener Rundfunkredakteur der frühen Bundesrepublik.

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In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts war Radio das kulturelle Leitmedium. In den Abendstunden lieferten die Rundfunkanstalten ihren Hörern ein anspruchsvolles Programm aus literarischen, politischen und naturwissenschaftlichen Themen. Für viele Literaten trug der Funk maßgeblich zur Existenzsicherung bei. Heute noch bekannt ist der Schriftsteller und Rundfunkredakteur Alfred Andersch sowie die Autoren, die er in Frankfurt, Hamburg und Stuttgart vor das Mikrophon geholt hat. Sie gehörten zum größten Teil der »Gruppe 47« an. Dass es damals noch weitere bedeutende Redakteure gab, ist heute beinahe ebenso unbekannt wie die Autoren, die diese zu Wort kommen ließen. Der Aufsatz stellt mit Jürgen Eggebrecht einen solchen Protagonisten vor, in der Hoffnung, ihn sowie die von ihm beim NDR engagierten Schriftsteller der literarhistorischen Vergessenheit zu entreißen. Eggebrechts Leben und Wirken wird vor dem Hintergrund des 2009 von der Münchner »Monacensia, Literaturarchiv und Bibliothek« erworbenen Nachlasses rekonstruiert. Eggebrecht leitete beim NWDR/NDR ab den frühen 1950er Jahren bis 1959 die Abteilung »Kulturelles Wort« und sorgte in dieser Position für ein literarisch vielstimmiges Programm – neben Autoren der »Gruppe 47« arbeiten auch Vorkriegsautoren wie Ernst Penzoldt und Exilschriftsteller wie Hermann Kesten für die Programme. Zu entdecken ist eine deutsche Literatur, die keinen Platz im Kanon deutscher Literatur des 20. Jahrhunderts besitzt.

1. Der Rundfunk, die »Gruppe 47« und der deutsche Literaturkanon

»Meine einzige Universität waren das Radio und die Zeitschriften. Wer den letzten Vortrag von Adorno nicht gehört hatte, war ein Penner. Wer keine Zeitschrift las, war intellektuell verloren.«1 Süffisanter als es Michael Krüger, langjähriger Verleger des Hanser- Verlags, auf einer Tagung zur Bedeutung der Literaturzeitschriften in Vergangenheit und Gegenwart im Münchner Literaturhaus 2009 ausgedrückt hat, kann man die mediengeschichtliche Situation der 1950er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland nicht fassen. Auf der einen Seite prägten in einem heute kaum mehr vorstellbaren Maße Zeitungen und Periodika wie die »Neue Rundschau«, die »Frankfurter Hefte« und die von Walter Höllerer und Hans Bender ins Leben gerufenen »Akzente « das kulturelle Leben jener Jahre. Auf der anderen Seite avancierte das Radio zum unangefochtenen »Leitmedium«.2 Es unterhielt die Hörer, gleichzeitig brachte es ihnen ebenso wissenschaftliche wie geistesgeschichtliche und literarische Themen nahe. Auf diese Weise sicherte der Funk auch die Existenz unzähliger Schriftsteller. Michael Krügers Statement bestätigt in nuce die jüngere zeithistorische Forschung zu einem unterschätzten Jahrzehnt, das lange Zeit als muffig-biedere, ausschließlich restaurative Nierentisch-Epoche in unserem kollektiven Gedächtnis existiert hat. Das »penetrante Klischee, dass die fünfziger Jahre einfach nur eine dumpfe, stagnierende Zeit gewesen seien, [ist] falsch« (Hans-Ulrich Wehler).3

Auch Joachim Kaiser sieht in der Zeit von 1949/50 bis 1959 »Deutschlands in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts produktivstes Jahrzehnt«.4 Seine im März 2008 in der »Süddeutschen Zeitung« geäußerte These erläuterte der bedeutende Theater-, Literatur- und Musikkritiker auf einer Gesprächsveranstaltung, die im Frühjahr 2010 anlässlich der Ausstellung »In der Zukunft war ich schon. Leben für die Literatur. Jürgen Eggebrecht 1898–1982« in den Räumen der Monacensia, Literaturarchiv und Bibliothek, stattgefunden hat. Kaiser entfaltete dort das gesellschaftsund kulturpolitische Panorama einer Zeit, die von einer großen Neugier, Offenheit und Experimentierlust geprägt war. Auch er bezog sich vor dem Hintergrund seiner eigenen Karriere auf die Rolle der damals maßgeblichen Medien Radio und Zeitung. Nur diese »Blütezeit des Kulturradios« ist im Folgenden von Interesse.5 Geistig prägend waren für ihn als jungen Intellektuellen vor allem die »Nachtprogramme « der großen deutschen Rundfunkanstalten, die nach dem Vorbild der dritten Programme der BBC zu später Abendstunde Sendungen über kulturelle und literarische Themen ausstrahlten. Joachim Kaiser: »Virginia Woolf, die großen amerikanischen Schriftsteller, Sartre, die philosophischen Fragestellungen. Das waren alles erst einmal Radiophänomene für uns, denn die Bücher gab’s noch nicht.«6 Da existierte zum einen das »Nachtstudio« des Bayerischen Rundfunks, das von Gerhard Szczesny verantwortet wurde. Da existierte zum anderen das des Nordwestdeutschen Rundfunks unter der Ägide des Hamburger Funkhaus-Intendanten Ernst Schnabel. Und schließlich verfügte auch der amerikanische Sender Radio Frankfurt, der spätere Hessische Rundfunk, über sein »Abendstudio«. Geleitet wurde es von 1948 bis zu seinem Wechsel zum Süddeutschen Rundfunk Mitte der 1950er Jahre von Alfred Andersch – in Stuttgart gründete der Redakteur und Schriftsteller die ebenso wirkmächtige Redaktion »Radio-Essay«, deren Chef er bis 1958 blieb. Darüber hinaus war Andersch ab 1951 bis 1955 auf Werben von Ernst Schnabel in Personalunion Leiter der Feature-Redaktion des NWDR in Hamburg.7

Zwei Zitate mögen die Zielsetzung der »Abend«- und »Nachtstudios« veranschaulichen. Ihr Spektrum reichte von politisch-soziologischen über naturwissenschaftliche bis zu literarischen Themen, dargeboten als Vortrag, Lesung, Erzählung, Essay oder im Gespräch. Bewusst wurde den Hörern einiges abverlangt. In einem Positionspapier des Nordwestdeutschen Rundfunks formulierte im Oktober 1947 der Redaktionsausschuss – darin unter anderem Ernst Schnabel, Jürgen Schüddekopf, Axel Eggebrecht und Peter von Zahn – bezüglich des neuen Spätprogramms: »Der Nordwestdeutsche Rundfunk wird ab 2. November 1947 ein Nachtprogramm senden, das zunächst am Montag, Mittwoch und Donnerstag von 22:30–24:00 Uhr für den geistig interessierten Hörer Sendungen von anspruchsvoller Qualität und aktueller Thematik bringen will […]. Die Sendungen werden große Ansprüche an die Hörerenergie stellen. Sie müssen durchweg so beschaffen sein, dass sie den Hörer zwingen, entweder mitzuhören oder abzuschalten […]. Der durchschnittliche Hörer aber wird, auch wenn er noch so interessiert ist, physisch erschöpft sein, außerdem wahrscheinlich ein skeptisches Misstrauen gegen ‚Bildungsvorträge‘ mitbringen. Was das Nachtprogramm deshalb unbedingt vermeiden muss, ist die Langeweile, die auch aus dem Bedeutenden entstehen kann. Keiner der Beiträge darf die Manier des akademischen Kollegs, sondern jeder muss vielmehr die des lebendigen Gesprächs haben.«8

Nicht weniger anspruchsvoll ist Alfred Andersch. In einem Programmpapier, das er mit seinem Arbeitsbeginn im August 1948 in Frankfurt vorlegte, heißt es unter anderem: »Das Mitternachtsstudio steht hinsichtlich Qualität, Niveau und Zumutungen an das Mitgehen der Hörer außerhalb der beliebten Diskussion über ‚Rücksicht auf den Hörer‘ et cetera. Voraussetzung einer ‚Sendung für Anspruchsvolle‘ ist gerade die Zumutung höchster Ansprüche […]. Das Mitternachtsstudio steht in stärkstem Maße unter dem Gesetz der Aktualität. Die Aktualität wissenschaftlicher und literarischer Sendungen von hohem Niveau muß aber genau definiert werden: Sie ist eine Zeitnähe auf der ihnen eigenen Ebene, Ausgangspunkt ist der Mensch, und zwar nicht der Mensch ‚an sich‘, sondern der Mensch in der Nachkriegswelt des Zweiten Weltkrieges mit all ihren Problemen und künstlerischen Formtendenzen.9 Joachim Kaiser machte auf der Münchner Veranstaltung deutlich, dass für ihn seinerzeit das »Abendstudio « von Andersch ebenso wie dessen Stuttgarter »Radio-Essay« die bedeutsamsten Programmangebote waren. Nicht nur, weil ihn Andersch gemeinsam mit Heinz Friedrich infolge seines wegweisenden Adorno- Aufsatzes »Musik und Katastrophe« (1951) persönlich zur Mitarbeit animierte.10 Sondern auch, weil beide Programme seiner Meinung nach die intellektuell anspruchsvollsten gewesen sind. Schließlich hätten für Andersch in Frankfurt, Hamburg und dann in Stuttgart Wolfgang Weyrauch, Walter Kolbenhoff, Wolfgang Hildesheimer, Hans-Magnus Enzensberger, Arno Schmidt, Heinrich Böll, Erich Fried, Nelly Sachs und Ingeborg Bachmann Texte verfasst. Fast die Hälfte von Anderschs Beiträgern gehörte zur »Gruppe 47«.11

Demgegenüber hätten beim NWDR bzw. dann beim NDR, vor allem in seiner niedersächsischen Dependance Hannover, Autoren vorgetragen, die für sein »Empfinden ein bisschen zu erbaulich und harmlos und in Kleinigkeiten verliebt geschrieben« haben. Er wolle jedoch keine Namen nennen.12 Wen er aber unter anderem im Sinn hatte, erweist der Kontext: Hermann Kesten, Peter Bamm und Gerhart Herrmann Mostar. Verantwortlich für diesen »Sound« – so Kaiser – sei beim NWDR/NDR unter anderem Jürgen Eggebrecht gewesen. Zum Hintergrund: Der Lyriker, Rundfunkautor und jahrelange Leiter der Abteilung »Kulturelles Wort« in Hannover gab seinerzeit den Anlass für den Gesprächsabend – die Monacensia richtete nach Erwerb von Eggebrechts umfangreichem Nachlass die bereits genannte Ausstellung aus.13 Ziel ist es gewesen, die Person Jürgen Eggebrecht – weder verwandt noch zu verwechseln mit seinem Zeitgenossen, dem Journalisten und Schriftsteller Axel Eggebrecht, sowie dem im vergangenen Jahr aufgrund seiner Rolle als Soldat im Zweiten Weltkrieg in die Schlagzeilen geratenen Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht – der kollektiven Vergessenheit zu entreißen. Denn es steht außer Zweifel, dass sein Name heutzutage nur noch den allerwenigsten älteren Menschen ein Begriff ist. Und dann wohl eher wegen seiner bei Suhrkamp erschienenen Gedichtbände »Schwalbensturz« (1956) und »Splitterlicht« (1975) sowie seines einzigen Prosabuches »Vaters Haus. Huldigung der nördlichen Stämme« (Verlag Kurt Desch, 1971). Von den jüngeren Zeitgenossen ganz zu schweigen, die weder mit dem Lyriker noch mit dem Rundfunkredakteur irgendetwas verbinden. Warum aber, so muss man heute fragen, ist das eigentlich so?

Eine mögliche Antwort könnte in dem Urteil bezüglich der Qualität der verschiedenen Studios, ihrer Verantwortlichen und ihrer Autoren zu finden sein, wie es Joachim Kaiser vertritt. Man darf nicht vergessen: Dahinter steht einer der einflussreichsten Literaturkritiker und Meinungsführer der alten Bundesrepublik. Im Verbund mit Kollegen wie etwa Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki trug seine literarische Kritik maßgeblich zur Erfolgsgeschichte der oben genannten »Gruppe 47«-Autoren und deren Vernetzung mit dem Funk bei. Ein Kanon von Autoren bildete sich im Zusammenspiel von Tagungen und Literaturkritik über die Jahre heraus. »Es war […] eine hochliterarische Zeit«, schreibt Gründer und Impresario Hans Werner Richter über die stetig zunehmende Popularität und damit einhergehend den stetig zunehmenden Einfluss der »Gruppe 47« auf den Literaturmarkt. »Die Literatur stand im Vordergrund, nicht nur bei den Verlegern, sondern auch in den Rundfunkstationen und in den Feuilletons. Jede Neuerscheinung war mehr oder weniger ein Ereignis, jedes literarische Hörspiel wurde beachtet, jede Lesung, wo auch immer, hatte einen starken Zulauf. Umso wichtiger wurden die Tagungen der Gruppe 47. Sie standen im Mittelpunkt des literarischen Lebens.«14

Kanonbildung impliziert immer auch Exklusion. Im Fall der »Gruppe 47« bedeutete das den Ausschluss von Autoren, die entweder während des Nationalsozialismus ins Exil geflohen waren (beispielsweise Hermann Kesten) oder aber als innere Emigranten und so genannte Zwischenreich-Autoren (beispielsweise Horst Lange) in Deutschland geblieben waren. 15 Begründet wurde er programmatisch. Zur letzteren Gruppe noch einmal Hans Werner Richter: »Wir hatten uns gegen die Sklavensprache des Dritten Reiches, von uns Kalligraphie genannt, und gegen die Partei- und Propagandasprache des Dritten Reiches gewandt. Die Sklavensprache, das war die Sprache der inneren Emigration, in der die Kritik an der Diktatur nur in der esoterischen Verschlüsselung sichtbar wurde, erkennbar nur für den Eingeweihten, den Gleichdenkenden.«16 Zur ersten Gruppe noch einmal Joachim Kaiser: »Für jemand der 1933 emigrieren muss […] hat die Beziehung zu dem, was in Deutschland passiert, aufgehört und der Betreffende redet [nach seiner Rückkehr, FW] dann ungefähr so, wie er das Land 1933 verlassen hat. Eine bestimmte Entweihung der Sprache und des Denkens und dessen, was eine bestimmte Gemeinschaft bewegt, ohne seine Schuld natürlich, hat er nicht mitgemacht. «17

Beide Autoren-Gruppierungen hielt man von Seiten der »Gruppe 47«-Anhänger folglich für unfähig, die proklamierte »neue Literatur«, die nicht nur die »Formexperimente der alten fortsetzte«, zu begründen: »Immer waren es junge, unbekannte Autoren, die noch nichts veröffentlicht hatten. Prominente Schriftsteller, etwa der zwanziger Jahre, ganz gleich ob Emigranten oder nicht, sparte ich aus. Zu sehr war ich davon überzeugt, daß dies unsere eigene Sache war, die Sache einer neuen Generation und einer anderen Mentalität. Dies bedeutete nicht Gegnerschaft, sondern Abgrenzung, die Zäsur zwischen den Generationen und den Zeiten.«18

Wenn Joachim Kaiser bezüglich der erbaulichen Literaten, die Eggebrecht in Hannover zu Wort gebracht haben soll, einschränkend anfügt, es könne sein, dass das eben auch ein Generationsurteil von ihm sei, dann wiederholt er im Grunde noch einmal Hans Werner Richters Argument aus der Gründungsphase der »Gruppe 47«.19 Was aus seiner Sicht nachvollziehbar ist: Kaiser, ebenso wie beispielsweise Walter Jens, gehörte in der Tat zur »jungen Generation«, die den Krieg überlebt hatte und sich nun anschickte, die Chancen, die ihnen geboten wurden, zu nutzen – Kaiser ist Jahrgang 1928, Jens Jahrgang 1923. Andererseits war der Generationenverfechter Hans Werner Richter Jahrgang 1908 und auch ein Autor wie Günter Eich, geboren 1907, konnte 1950 als erster Preisträger der »Gruppe« nicht ernsthaft der »jungen Generation« zugerechnet werden. Abgesehen davon, dass Eich bereits während des »Dritten Reiches « ein erfolgreicher Rundfunkautor gewesen war. Freilich bildete die Verstrickung in den nationalsozialistischen Unterhaltungsapparat die Grundlage für seine literarischen Werke nach 1945, die ihn, der »eigenen Fehlbarkeit bewusst«, zu dem »bedeutenden Dichter und Moralisten« der frühen Bundesrepublik erst haben werden lassen.20 Aber das ist eine andere Geschichte.

Unzweifelhaft steht fest: Jürgen Eggebrecht gehörte einer anderen Generation an – genauer: der Frontgeneration. Er ist Jahrgang 1898. Seine Sozialisation fand im Wilhelminischen Kaiserreich statt. Die Teilnahme am Ersten Weltkrieg bestimmte sein Leben. Das literarische Netzwerk, das er sich als Verlagslektor der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) erst in Stuttgart und dann in Berlin in den Jahren der Weimarer Republik aufgebaut hatte, nutzte er nach dem Zweiten Weltkrieg in seiner Position als Rundfunkredakteur. Jürgen Eggebrecht schied 1959 krankheitsbedingt aus dem NDR aus. Und mit seinem Weggang begannen zunehmend literarische Stimmen zu verstummen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus noch Gehör und Leser fanden,21 bis sie schließlich ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein gedrängt waren. Oder besitzen in unserem literarischen Gedächtnis der Bonner Republik Autoren wie Hermann Kesten, Ernst Penzoldt oder Horst Lange noch einen Platz?22 Geschweige denn ein Lyriker und Redakteur wie Jürgen Eggebrecht? Aber stimmt es denn überhaupt, dass Eggebrecht als Funkredakteur nur »harmlose« Literatur zu Wort hat kommen lassen? Wer war dieser Jürgen Eggebrecht und wie sah er seine Arbeit im Rundfunk? Sein Nachlass, zugänglich seit 2009, bietet Gelegenheit, einen in Vergessenheit geratenen Akteur der frühen Bundesrepublik wiederzuentdecken. Er hält die eine oder andere Überraschung parat und ist möglicherweise im Stande, einen festgezurrten Kanon von Schriftstellern und Werken um ein paar verdrängte Literaten zu ergänzen. Das Ergebnis: ein facettenreicheres Bild der westdeutschen Nachkriegsliteratur.

2. Leben für die Literatur

Jürgen Eggebrecht wird am 17. November 1898 in Baben, einem kleinen Dorf in der Altmark, geboren.23 Sein Vater ist Pastor. Jürgen verlebt gemeinsam mit seinem vier Jahre älteren Bruder Gottfried eine »engelsstille Kindheit«.24 Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geht sie jäh zu Ende. Gottfried wird bereits gut ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn in Polen getötet. Jürgen selbst kurz vor seinem 18. Geburtstag im November 1916 eingezogen. Als Gefreiter nimmt er unter anderem in Flandern an Kämpfen teil, erleidet einen Bauchschuss. Immer wieder wird er später in seinen Gedichten, Erzählungen und dem Prosabuch »Vaters Haus« seine Kindheit und Jugend beschwören, die so gar nichts von wilhelminischem Drill und pastoraler Enge gehabt zu haben scheint.

Nach dem Krieg studiert er von 1920 bis 1925 in Greifswald, Innsbruck und Würzburg Rechts- und Staatswissenschaften. Am Ende steht die Promotion zum Dr. jur. In dieser Zeit durchstreift er wann immer möglich das Münchner Künstlerviertel Schwabing, lernt dort Elfi Stiehr, seine spätere Ehefrau und Mutter der drei gemeinsamen Söhne Arne (1935–2004), Jörg (1939–2009) und Harald (*1946), kennen und schließt erste Freundschaften mit Literaten und jungen Journalisten wie Joachim Ringelnatz oder W.E. Süskind. Weitere wichtige Bekanntschaften folgen, als er 1926 ein Volontariat bei Reinhard Piper in München beginnt, und unter anderem Klaus und Erika Mann begegnet. Erste Gedichte entstehen, die 1927 Eingang finden in die von Willi R. Fehse gemeinsam mit Klaus Mann herausgegebene »Anthologie jüngster Lyrik«. Alphabetisch angeordnet, finden sich dort unmittelbar nach Eggebrecht auch die ersten Gedichte eines späteren Freundes und Weggefährten: Günter Eich. Dieser veröffentlicht hier noch unter dem Pseudonym Erich Günter. Eich lernt Eggebrecht 1930 in Berlin dann persönlich kennen. Da war Eggebrecht durch Vermittlung W.E. Süskinds bereits seit zwei Jahren in Stuttgart Lektor bei der Deutschen Verlagsanstalt. Sein größter Erfolg dort: Er entdeckt den jungen Joseph Breitbach und dessen Aufsehen erregende Erzählungen aus dem Angestelltenmilieu, versammelt in dem Band »Rot gegen Rot«.

In seiner Funktion als Verlagslektor siedelt Eggebrecht 1930 nach Berlin über. Dort baut er sein Netzwerk aus Künstlern, Literaten und Kulturschaffenden weiter aus, auf das er als Rundfunkredakteur schließlich immer wieder zurückgreifen wird. Neben Günter Eich lernt er jetzt auch den umtriebigen Hermann Kesten und Peter Suhrkamp, zu der Zeit noch Herausgeber der »Neuen Rundschau«, kennen und schätzen. Mit allen dreien verbinden ihn lebenslange Freundschaften sowie enge Arbeitsbeziehungen. Im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung verliert Eggebrecht im April 1933 umgehend seinen Job, weil er sich geweigert hatte, in die NSDAP einzutreten.

Er verfällt ins Schweigen. Ein externes Lektorat des Ullstein-Verlages sichert notdürftig die Existenz. Mitglied in der Reichsschrifttumskammer ist er nicht. Ein einziges Mal versucht er sich in den Jahren bis Kriegsausbruch im Ton der Machthaber. Er schreibt einen Aufsatz über die Werke des nationalkonservativen Weltkriegsschriftstellers Werner Beumelburg, der mittlerweile als Geschäftsführer die Sektion für Dichtkunst in der ‚gesäuberten‘ Preußischen Akademie der Künste leitet. Das ist 1935 und der Text ein Gefälligkeitswerk. Eggebrechts Kontakt zu Beumelburg kam über Julius Gescher, seinen Freund aus Stuttgarter Tagen, zustande. Der Augenarzt und Homöopath Gescher, verheiratet mit der Witwe des 1934 gestorbenen Ringelnatz, stammte wie Beumelburg aus dem kleinen Örtchen Traben-Trarbach. Danach wieder Rückzug. 1937 kommen noch einmal zwei neue Freunde hinzu: Das Schriftstellerehepaar Horst Lange und Oda Schaefer. Julius Gescher, der im Mai 1945 an Scharlach stirbt, wird während des Krieges den schwer verwundeten Lange ein Dutzend Mal am Auge operieren.

1939 zieht man Jürgen Eggebrecht aufgrund seiner juristischen Ausbildung als Kriegsverwaltungs – rat ein und überstellt ihn an die »Abteilung Inland«. Dort ist er ab Juli/August 1942 als »Gruppenleiter III« im Range eines Majors für das Buchpapierkontingent der Wehrmacht zuständig und entscheidet über die Papierzuteilung. Die bisherige Forschung geht davon aus, dass beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW) auch Autoren verlegt worden sind, die mindestens ein zwiespältiges Verhältnis zum NS-Staat gehabt haben.25 Darüber hinaus erschien dort jede Menge schöngeistiger Literatur, was zunehmend für Ärger sorgte. So beklagte sich unter anderem der Vorsteher des Börsenvereins Wilhelm Baur im April 1943 bei Wilhelm Haegert, dem Leiter des Schrifttumsreferats des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda: »Als vor einigen Jahren die Wehrmacht dazu überging, Tornisterschriften herauszugeben, und sich dabei nicht nur auf politische und militärische Literatur beschränkte, befürchtete ich bereits eine ungeahnte Ausdehnung. Inzwischen hat die Wehrmacht oder vielmehr einzelne Offiziere im OKW, an der Herausgabe von Romanen, die sie in Lizenz erwarben, Gefallen gefunden und ihre Tätigkeit immer mehr und mehr ausgebreitet.«26

Eggebrecht ist für diese Entwicklung maßgeblich verantwortlich, auch wenn seine Tätigkeit noch zu großen Teilen im Dunklen liegt und weiterer Untersuchungen bedarf.27 Feststehen hingegen Akte des leisen Ungehorsams. Widerstand wäre zu viel gesagt. Eggebrecht hätte diesen Begriff in Zusammenhang mit seiner OKW-Zeit auch definitiv abgelehnt. Wirklicher Widerstand hat schließlich anders ausgesehen. Dank Eggebrechts Einsatz konnte jedenfalls Horst Langes Roman »Ulanenpatrouille« nach Verbotsandrohungen 1940 doch noch erscheinen: »Gestern und vorgestern«, notiert Horst Lange in sein Kriegstagebuch, »kämpfte ich beim OKW gegen das drohende Verbot der Ulanenpatrouille [wegen Verächtlichmachung der alten Armee und des Offiziersstandes!] Wie seltsam die Kreise sich schließen: der Mann, der die Entscheidung über das Ganze hat, ist ein alter Bekannter von mir. Das Rettende ging so weit, daß er mir Einblick in seine Dienstakten gab und mir gestattete, die Erwiderung, die er selbst auf die Vorstöße Fremder hätte machen müssen, und ein Gegengutachten […] ihm ad hoc in die Schreibmappe zu diktieren. Vor einiger Zeit wäre ich nicht imstande gewesen, die hohe Ironie dieses Vorfalls zu begreifen und zu goutieren.«28 Der alte Bekannte ist Jürgen Eggebrecht.

Dank Eggebrechts Einsatz konnte auch die in der napoleonischen Zeit spielende Erzählung »Korporal Mombour« von Ernst Penzoldt – nicht gerade Erbauungsliteratur für kämpfende Soldaten – 1943 als Feldpostausgabe erscheinen. Ebenso hielt er mit Feldpostausgaben Friedrich Bischoff, den späteren ersten Intendanten des Südwestfunks, über Wasser. Und er wurde von Peter Suhrkamp, dem das OKW durch zahlreiche Sonderausgaben für die Wehrmacht das wirtschaftliche Überleben des »Suhrkamp Verlages, vorm. S. Fischer« sicherte,29 dafür bestimmt, im Falle von dessen Verhaftung sein Nachfolger zu werden. 1944 ist es so weit. Suhrkamp wird von der Gestapo abgeholt, die Anklage lautet auf Hoch- und Landesverrat und man steckt ihn erst ins Gestapo-Gefängnis Lehrter Straße, dann ins KZ Sachsenhausen. Eggebrecht lehnt die ihm zugedachte Nachfolge allerdings ab.

Eggebrecht überlebt den Krieg. Ebenso wie seine über ganz Deutschland versprengten Freunde Günter Eich, Horst Lange, Ernst Penzoldt, Friedrich Bischoff, Peter Suhrkamp. Man nimmt Kontakt auf, fragt nach dem gegenwärtigen Befinden, lässt sich erzählen. Günter Eich an Jürgen Eggebrecht: »Mein lieber Jürgen, wie habe ich mich gefreut, von Dir zu hören! Gingen doch schlimme Gerüchte über Dich um: Du seist (noch in der Nazizeit) zum Tode verurteilt worden. Weswegen und ob das Urteil vollstreckt sei, war unbekannt.«30 Eggebrecht wohnt mit Frau und Kindern zu jener Zeit im niedersächsischen Warberg, wo seine Familie seit den zwanziger Jahren einen Hof besitzt. Ist niedergeschlagen. »[…] ich habe kein Verlangen mehr nach Welt und Mensch«, heißt es in einem Brief an Horst Lange.31

Er beginnt wieder Gedichte zu schreiben, lässt sie von Günter Eich gegenlesen. Der Ertrag mündet in dem ersten eigenständigen Gedichtband »Die Vogelkoje « (1949). In dieser Zeit geht es ihm psychisch schon wieder besser. Er arbeitet jetzt auch als freier Mitarbeiter für den NWDR im nahe gelegenen Hannover. Eine Tätigkeit, der 1951 die Festanstellung und 1953/54 die Übernahme der Abteilung »Kulturelles Wort« folgt. 1957 dann bricht er auf einer Tagung der »Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung« in Düsseldorf zusammen. Er kommt ins Krankenhaus. Die Ärzte vermuten einen Hirntumor, doch die Diagnose bewahrheitet sich nicht. Zunächst. Eggebrecht geht auf mehrmonatige Kur und kehrt dann an seinen Arbeitsplatz im Funk zurück. Im Mai des darauffolgenden Jahres wird er Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums, ehe sich sein Gesundheitszustand erneut verschlechtert. Wieder folgen Untersuchungen, die nun den einst geäußerten Tumor-Verdacht bestätigen. Dieser ist jedoch gutartig, die Schädeloperation im Oktober 1958 verläuft gut. Allerdings leidet Eggebrecht im Anschluss an Aphasie und muss erst mühsam mit Hilfe seiner Frau und seiner Freunde wieder das Sprechen lernen. Das bedeutet auch das Ende der Rundfunkkarriere. Gemeinsam mit seiner Frau zieht er nach München um, wo er bis zu seinem Tod am 19. April 1982 lebt. Sein Grab befindet sich auf dem Waldfriedhof München.

Die letzten zwanzig Jahre sind angefüllt mit Auftragsarbeiten für den Rundfunk. In den Sendungen für den NDR und vor allem den BR erinnert er sich unter anderem an seine vielen Freunde. »Zum 30. Todestag von Joachim Ringelnatz« heißt ein Beitrag (16.11.1964), ein anderer »Friedrich Bischoff im 2. Weltkrieg« (26.1.1966). Wieder ein anderer ist Peter Suhrkamp gewidmet, der 1966 seinen 75. Geburtstag gefeiert hätte (23.2.1966). Eggebrecht schreibt seine an der Stilistik eines Jean Paul orientierten Kindheitserinnerungen nieder (»Vaters Haus«, 1971), der neben Lawrence Sterne und Wilhelm Raabe sein großes Vorbild ist. Verarbeitet in Gedichten seine schwere Krankheit sowie den Tod weiterer Bekannter und Weggefährten wie Georg von der Vring (1968), Horst Lange (1971), Günter Eich (1972) und Ingeborg Bachmann (1973). Nachzulesen sind sie in dem Gedichtband »Splitterlicht«, der 1975 bei Suhrkamp erscheint. Im gleichen Jahr erhält er auch das Bundesverdienstkreuz. Verdienter Höhepunkt eines Lebens, das ganz der Literatur und ihrer Vermittlung gewidmet war.

3. Für eine Kultur des Dialogs

»Das Wagnis des Gesprächs« heißt ein Radiobeitrag Jürgen Eggebrechts, der am 25. April 1954 gesendet wird. Er ist ein flammendes Plädoyer für den Dialog zwischen den Menschen, einem Ich und einem Du. Frei und friedlich das Wort zu ergreifen und sich mit seinem Gegenüber auszutauschen, ist ein Signum der Demokratie – zwölf lange Jahre hatte es nichts, aber auch gar nichts gegolten, wurde korrumpiert und mit Füßen getreten. Neun Jahre nach Kriegsende sieht Eggebrecht Sprache und Sprechen wieder in Gefahr, verloren zu gehen. Nicht der Dialog, der Monolog beherrsche das Leben, so dass die Menschen höchstens übereinander, aber nicht miteinander reden: »Wir sind entschieden in die Gefahr der Vereinzelung geraten. Wir können wohl reden über – aber unser Sprechen ist erkaltet, und diese unangenehme Tatsache wird symptomatisch für alle Gebiete der menschlichen Entwicklung […]. Jeder ist sein Ich, ich Einzelperson; das Du verschwindet. «32 Dieser bedenklichen Entwicklung müsse gegengesteuert, -gearbeitet, besser gegengesprochen werden. Ein Wagnis, sicher, aber unabdingbar. Schließlich sei das Gespräch ein Akt der Humanität: »Man kann niemandem vorschreiben, was er besonders schön finden und lieben soll, aber man müßte doch dahinkommen, auch heute noch, den anderen gelten zu lassen in seiner jeweiligen Besonderheit und redlichen Gegnerschaft, wenn nicht aus sich selbst, dann doch aus dem Geiste der Humanität. Und damit wäre ich denn an dem Punkt, deutlich zu machen, wie eminent wichtig es ist, immer von neuem den Versuch zu unternehmen, nicht mit der Diskussion, sondern mit dem Wagnis des Gesprächs. «33

Wollte man Jürgen Eggebrechts Rundfunkschaffen auf einen Nenner bringen, dann besteht er sicherlich in der Hochachtung vor dem freien Wort, die auch die Anerkennung des Gesprächspartners und seiner Argumente mit einschließt, kurz: in der Kultur des Dialoges. Diese zu fördern und zu befördern, darin sieht er nach der Nazi-Herrschaft neben der Vermittlung zeitgenössischer Literatur – zu ihr später mehr – seine Hauptaufgabe. Beredt allein schon die Titel der Sendereihen, die Eggebrecht beim NWDR in Hannover zunächst als freier Mitarbeiter und dann als Redakteur und Leiter der Abteilung »Kulturelles Wort« anstößt. Da wären zu nennen: »Du und die Zeit«, eine 29-teilige Folge von fünfminütigen Betrachtungen, Einlassungen und Anekdoten, gesendet vom 23. Oktober 1951 bis zum 23. Oktober 1952. Sodann »Der Einzelne und die Mächte«, eine vierteilige Diskussionsrunde zu tagespolitischen Themen, der kein Manuskript zugrunde liegt. Die Teilnehmer der Gespräche am runden Tisch reden frei miteinander. An den Gesprächen am 2. März 1952, 23. März 1952, 13. April 1952 und 4. Mai 1952 nehmen unter anderem Landesbischof Hanns Lilje, Adolf Grimme, Carl Friedrich von Weizsäcker, Carlo Schmid, Hermann Aubin und Ernst Friedländer teil.

Da wären zudem anzuführen: Die »Loccumer Gespräche «, die in der dortigen Evangelischen Akademie unter anderem mit José Ortega y Gasset geführt und anschließend, als Aufzeichnung, gesendet werden. Die erste Sendung geht am 17. Dezember 1953 über den Äther, ihr Thema: »Geschichte – Lehrmeisterin oder Verhängnis«. Schließlich das zehnminütige »Nächtliche Zwiegespräch«, das am 4. April 1954, kurz vor elf Uhr nachts, erstmals auf Sendung geht. Im Mittelpunkt steht ein Dialog. Er kann sowohl aus der Literatur stammen oder live von zwei Personen geführt werden. Den Auftakt bildet ein Gespräch zwischen Lorenzo und Jessica aus Shakespeares »Kaufmann von Venedig«. Ferner entsteht das so genannte »Tribunal«, mit dem man im November 1954 auf der Ultrakurzwelle Nord startet. Zwischen Dienstag und Donnerstag senden die Funkhäuser Hamburg und Hannover in Zusammenarbeit um halb elf Uhr abends das »Tribunal der Literatur«, das »Tribunal der Kultur« sowie das »Tribunal der Zeit«. Darin möchte man den Hörer »unterhalten durch Notizen, Anmerkungen, ein gesprächiges Hin und Her. Wir wollen Sie unterrichten und auf dem Laufenden halten, indem wir uns auf dem Laufenden halten. Erfrischen und Meinung und Gegenmeinung austauschen, das verstehen wir unter Tribunal.«34

Die wenigsten dieser Sendungen existieren noch auf Band. Ihre Zielsetzung jedoch wird aus den Einführungen ersichtlich, wie sie zum Start jeder Reihe dem Hörer zur Orientierung angeboten wurden und die uns zum Teil als Manuskripte erhalten sind. Aus einer wurde soeben zitiert. Deutlicher wird der Ansatz Jürgen Eggebrechts allerdings in zwei anderen. Der Reihe »Der Einzelne und die Mächte« schickt er folgende Worte voraus: »‚Der Einzelne und die Mächte‘ ist ein uns alle bewegendes Thema. Darüber nachzudenken, leitet heute der Nordwestdeutsche Rundfunk Hannover eine Reihe von Gesprächen ein, deren erstes sich mit dem Appell zur politischen Entscheidung in unserer Zeit und in unserem Land befaßt. Es liegt kein Manuskript vor, sondern weithin bekannte Persönlichkeiten unseres öffentlichen Lebens sprechen hier freimütig miteinander. Sie haben eine Erfahrung hinter sich des Leidens, eine Erfahrung mit jener Welt, in welcher der Mechanismus wie immer gearteter Mächte den Menschen als Einzelnen, auf den es ankommt, bedroht. Das Gespräch ist der Trost der Männer. Denn seine Initiativkraft möchte den Menschen – also jeden von uns! – in seinem Menschlichen, in seiner Person bestätigt sehen. Er muß nicht den personenzerstörenden Einflüssen des Kollektivismus ausgesetzt sein! Aus seiner Bewegtheit vom Allgemeinen her, mehr aber noch aus seiner Stille wächst jedem von uns etwas zu an Kraft, um zu wirken und mit anderen, ähnlich gearteten Naturen unseren Erdentag zu bestimmen, ja, zu bessern.«35

Und den Hintergrund der »Nächtlichen Zwiegespräche « erklärt er dem Hörer wie folgt: »Gewohnt, zu solcher Abendzeit sonst oft unter der Überschrift zur ‚Zur Nacht‘ Gedanken und Gedichte zu hören, sollen Sie, verehrte Zuhörer, mit unserem von nun ab regelmäßig wiederkehrenden ‚Nächtlichen Zwiegespräch‘ Zeuge davon sein, wie Menschen einander begegnen, Menschen bis auf diesen Tag. Es ist die ausdrückliche Absicht unserer neuen Reihe, zu fragen, und damit die Fragwürdigkeit des Gesprächs, also der Sache, die uns am Herzen liegt, darzutun. Aber wir meinen, dass es gleichwohl nichts Besseres gäbe, als eben das Gespräch. Man muss es nur wagen. ‚Was ist herrlicher als Gold?‘ hören Sie die Stimme des alten Mannes. Goethe antwortete, als er diesen Satz niedergeschrieben hatte: ‚Das Licht‘. – ‚Was ist erquicklicher als Licht?‘ – ‚Das Gespräch‘«.36

Als Jürgen Eggebrecht 1949 als freier Mitarbeiter für den NWDR in Hannover zu arbeiten beginnt – zaghaft zunächst – war er in Sachen Radio ein Laie.37 Im Gegensatz zu vielen Kollegen, die wie etwa Friedrich Bischoff bereits in den 1920er Jahren für den Funk tätig waren, verfügt der Anfang Fünfzigjährige über keinerlei rundfunkspezifische Erfahrungen. Schon früh bemüht man sich von Seiten des NWDR, den im niedersächsischen Warberg wohnenden Lyriker zur Mitarbeit zu bewegen. So wendet sich etwa Jürgen Schüddekopf aus Hamburg im Oktober 1947 an Eggebrecht, um ihn für das neu konzipierte Nachtprogramm zu gewinnen: »Mein Lieber, […]. Beiliegendes möge Sie unterrichten über das, was wir im Nachtprogramm machen wollen. Ich werde aufhören, Ihnen Zeichen zu schicken, um Sie zur Mitarbeit zu ermuntern, wenn es nicht anders ist, können wir uns für den weisen Vater von Wahrberg (sic!) ein Pseudonym ausdenken.«38

Eggebrecht lehnt jedoch zunächst ab. Dahinter steht der Wunsch, als Lyriker und Autor wahrgenommen zu werden. Bis auf einen kleinen Beitrag im November 1946 für die Monatsschrift »Die Schule«, herausgegeben von Adolf Grimme, der zu dieser Zeit niedersächsischer Minister für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft ist, konzentriert sich Eggebrecht auf seine schriftstellerische Arbeit. Ihr Ertrag: der oben genannte Gedichtband »Die Vogelkoje«.39 Horst Lange berichtet er in einem Brief 1946: »Kästner forderte mich auf, für Die Neue Zeitung zu schreiben. Ich habe es ihm nicht abgelehnt, trotzdem weiß ich nicht, ob ich es jetzt schon tun soll. Suhrkamp riet mir ab und meint erst ein Buch und dann die Presse. Ich will versuchen so zu tun, obgleich fürs Brot umgekehrt besser wäre.«40

Nach Erscheinen der »Vogelkoje« beginnt sich bei Eggebrecht langsam die Einstellung zu wandeln. Dass dabei finanzielle Gründe eine Rolle gespielt haben, ist nicht auszuschließen. Erste Prosabeiträge und Buchrezensionen sind für 1949/50 in der »Hannoverschen Allgemeinen Zeitung« sowie in der »Kasseler Zeitung« nachzuweisen, und auch das »Nachtprogramm « kauft bei ihm vier seiner Gedichte zur Veröffentlichung an.41 Schüddekopfs weiteren Bemühungen, den Lyriker für eine Mitarbeit zu gewinnen, scheinen demnach nicht mehr aussichtslos gewesen zu sein. Er wendet sich zum Jahreswechsel 1949/50 an ihn mit den Zeilen: »Lieber Jürgen Eggebrecht, das Nachtprogramm wünscht Dir und sich ein gutes Jahr 1950, und dass dieses Jahr 1950 möglichst unauffällig an uns vorübergehen möchte. Das ist derzeit der beste Wunsch, den wir wissen. Es bleibt der Wunsch, dass Du […] uns ein bisschen dabei hilfst, dem Sender ein Profil zu geben.«42

Das neue Funkhaus am Maschsee in Hannover, 1951/52. Foto: © NDR-Archiv

Wann genau nun Eggebrecht zunächst Angestellter der Abteilung »Kulturelles Wort« in Hannover wird, darüber geben die Aktenbestände unterschiedliche Auskünfte. Er selber erwähnt in einem Brief an die Personalabteilung in Hamburg, dass er »bereits seit dem 01.07.1950 im Funkhaus Hannover Dienst« tue.43 Aus einem Arbeitsvertrag vom Oktober 1954 geht jedoch hervor, dass Eggebrecht »im NWDR seit dem 01.09.1951 angestellt« ist.44 Auf dieses Jahr datiert auch sein Umzug nach Hannover, während die Familie in Warberg wohnen bleibt. Darüber hinaus nimmt Eggebrecht es mit Datumsangaben nicht immer sehr genau, so dass der 1. September 1951 wahrscheinlich ist. Letztlich ist das exakte Datum seines Dienstantrittes allerdings nicht entscheidend – Verwirrung herrscht im Übrigen auch, ob Eggebrecht bereits 1953 oder zu Jahresbeginn 1954 zum Leiter der Redaktion sowie zum Stellvertretenden Chefredakteur des Funkhauses Hannover ernannt worden ist.45 Wichtiger ist, dass er ab Mitte 1951 das Profil der Abteilung, so wie es Schüddekopf gewünscht hatte, entscheidend mitprägt.

Die erwähnte Reihe »Du und die Zeit«, die im Oktober 1951 startet, ist seine erste Visitenkarte. Weitere folgen. Nun abgegeben nicht mehr im provisorischen Rundfunkgebäude in der Pädagogischen Hochschule, sondern im neu erbauten Funkhaus am Maschsee. Dieses feiert nach dreijähriger Bauzeit am 20. Januar 1952 Eröffnung. Trotz alledem ist Eggebrecht immer noch Rundfunk-Novize, was im Briefwechsel mit dem Generaldirektor Adolf Grimme anlässlich der ersten Sendung von »Der Einzelne und die Mächte« zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig veranschaulicht er, welche Improvisationsmöglichkeiten und Freiheiten der Rundfunk zu der Zeit für seine Akteure noch bietet. An der Sendung vom 2. März 1952 nehmen Hanns Lilje, Carl Friedrich von Weizsäcker, Carlo Schmid und Ernst Penzoldt teil. Dass auch der Schriftsteller des »Armen Chatterton« und der »Powenzbande« mitdiskutiert, ist dabei »barer Zufall«. Er kam, laut Eggebrecht, mit Weizsäcker zusammen in Hannover an, »sie waren im gleichen Abteil gereist und Weizsäcker in seiner reizenden und chevaleresken Art meinte, Penzoldt sollte doch teilnehmen « – ein heute nicht mehr vorstellbarer Vorgang. 46 Adolf Grimme wendet sich nun nach dem Anhören der Sendung an Eggebrecht, um ihn gleichermaßen zu tadeln wie zu loben. Ihre anregende Wirkung stünde außer Zweifel, so Grimme. Sie würde allerdings noch »stärker sein, wenn man bei den nächsten Sendungen dem Hörer nicht zugleich die Preisaufgabe stellte, wer eigentlich denn da nun grade spricht […]. Ich würde also Sorge dafür tragen, daß die Herrschaften einander höflicherweise immer mal anreden, und vielleicht merkt dann der Einzelne auch selbst schon, daß er […] mit seiner elegischen Tonnenbasses-Grundgewalt den anderen überkiloherzt. […] von diesen roten Tintenstrichen abgesehen, bin auch ich dafür, daß der Schüler J.E. das Reifezeugnis erhält.«47

Eggebrecht antwortet Adolf Grimme nur wenige Tage später und erklärt sich vollkommen einverstanden mit dessen Einwänden: »Lieber und hochverehrter Herr Dr. Grimme, Ihr gütiger Brief zu unserem Gespräch ‚Der Einzelne und die Mächte‘ musste mich natürlich richtig freuen. Ich finde Ihre Kritik ausgezeichnet, denn sie trifft genau die Punkte, die nicht zu übersehen sind. Das Gespräch war 37 Minuten lang; da aber die Sendezeit nur eine halbe Stunde betrug, so war es nicht eben leicht, es zurecht zu schneidern. Hinzu kam: Carlo Schmid sass in Bonn, wir anderen in Hannover. Damit ging für beide Teile die Unmittelbarkeit des Sichsehens und Reagierens verloren. Die Kopfhörer, die wir alle aufhatten, bewirkten allerdings zu meiner Überraschung eine gesteigerte Konzentration. Niemand von uns hatte ein Manuskript […]. Mir machen diese Gespräche grosse Freude und der allgemeine Widerhall, und Ihrer zumal, bestärken mich darin, dass ich etwas Förderliches tue, wenn ich den Hörern ruhig etwas zumute.«48

Hier ist es wieder, was den Rundfunk der frühen Nachkriegszeit neben seiner lockeren Unförmlichkeit – siehe die spontane Hinzunahme Ernst Penzoldts – auch auszeichnet: sein enormer »Anspruch an die Hörerenergie«. Hinter ihm steckt stets eine gehörige Portion Didaktik. »Bei uns im Funk« hat Eggebrecht eine Sendung aus dem März 1952 betitelt, in der er bezüglich seiner Anekdoten, die er auf diesem Sendeplatz immer zum Besten gibt, einräumt: »Ob nun in meinem Fall sich Beweise dafür finden lassen, dass ich in meinen mehr oder weniger improvisierten Darlegungen an jedem Dienstag zu schwierig bin, könnte durchaus sein. Jedoch welche Geschichte, die jeder von uns erzählen könnte, ist nicht schwierig? In meinen geht es natürlich auch um mich, aber mehr noch um solche Leute, die einem fortwährend über den Weg laufen und die mindestens eben soviel Schicksal haben wie ich es den Hörern andeutungsweise zu erzählen versuche. Bei uns im Funk […] ist hoffentlich keiner weniger als der andere.«49 Eggebrecht setzt diesen Anspruch nicht nur in seinen oben genannten gesellschaftspolitischen Sendungen um – zu ihnen gehören auch all die Gespräche zum hochbrisanten Thema Kernenergie, die er etwa mit Otto Hahn führt – 50, sondern auch in seinen Literaturprogrammen. Auf sie sei zum Schluss noch eingegangen.

Wer von den zeitgenössischen Autoren trägt unter Eggebrechts Ägide aus seinen Texten vor? Um es vorweg zu nehmen: Im Vergleich mit Alfred Andersch, der, sieht man einmal von seiner Entdeckung Arno Schmidts ab, hauptsächlich Autoren der »Gruppe 47« zu Wort kommen lässt, ist das Spektrum an Schriftstellern bei Eggebrecht breiter gefächert. Von einer Bevorzugung von Autoren der so genannten »jungen Generation« kann bei ihm keine Rede sein. Aber auch nicht davon, dass er diese ignorieren würde. Bei Eggebrecht gehen ehemalige Exilautoren wie Hermann Kesten und Gerhart Herrmann Mostar ein und aus. Bei ihm gehen Autoren ein und aus, die bereits vor dem Krieg etabliert waren bzw. während des »Dritten Reiches« größtenteils Unverfängliches oder Hermetisches wie Naturlyrik publiziert hatten – Ernst Penzoldt und das Ehepaar Schaefer/Lange sind hier zu nennen. Problematischer liegt der Fall bei dem stärker involvierten Georg von der Vring; und es gingen Autoren wie Günter Eich und seine Ehefrau Ilse Aichinger ein und aus. Auch Wolfgang Hildesheimer, mit dem Eggebrecht freundschaftlichen Umgang pflegte, findet sich unter den Autoren. Ganz abgesehen von dem Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, der über all den Gruppierungen jener Jahre thronte. Zu den Glanzpunkten von Eggebrechts Rundfunkschaffen gehört die Gesamtaufnahme des »Tonio Krögers« im Schweizerischen Kilchberg. Im Beisein des NDR-Redakteurs las der 79-jährige Schriftsteller im Frühjahr 1955 sein komplettes Jugendwerk ein.51

Eggebrecht greift als Rundfunkredakteur ganz selbstverständlich auf sein literarisches Netzwerk zurück, das er sich in den Vorkriegsjahren aufgebaut hat. Richtungsstreitigkeiten scheinen ihn indes nicht interessiert zu haben. So ist es auch nur allzu verständlich, dass er zwar von Hans Werner Richter immer wieder zu den Tagungen der »Gruppe 47« eingeladen worden ist, und den Spiritus Rector auch in seinem Kampf gegen die atomare Aufrüstung unterstützte, aber eben auf den Treffen keiner jener kritischen Wortführer gewesen ist, wie sie Joachim Kaiser, Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki verkörperten. Joachim Kaiser schildert anschaulich, wie Eggebrecht sich bei der öffentlich zelebrierten Kritik von Autoren zurückgehalten hat: »Jürgen Eggebrecht war seinem ganzen Typus nach kein Mensch, der Spaß hatte, sich laut schreiend an solchen Wortgefechten zu betätigen. Der hielt sich sehr zurück. Ich traf ihn natürlich, und dann sprachen wir über die einzelnen Autoren, die wir gehört hatten, und er war keineswegs unkritisch. Er war heiter, er nahm das ganze gelassen. Und wäre bestimmt nicht zur Gruppe 47 gekommen, wenn sich da tatsächlich die Kahlschlagsleute durchgesetzt hätten. Das war aber nicht der Fall.«52

Günter Eich (1.v.r.) und Jürgen Eggebrecht (2.v.r.). Juni 1952. Foto: © Privatbesitz Harald Eggebrecht

Sein enger Freund Günter Eich gehört zu einem der fleißigsten Beiträger für Eggebrechts Programm. So erarbeitet der Schriftsteller, Lyriker und Hörspielautor vom August bis Dezember 1954 »Die schönsten Geschichten aus Tausendundeiner Nacht« in zehn Teilen. Darüber hinaus schreibt er drei Folgen der Hörreihe »Indianer und Rothäute. Traumbilder der Jugend – Figuren der Wirklichkeit«, in denen er Geschichten des »Lederstrumpf«-Autors James Fenimore Cooper erzählt. Schließlich konzipiert Eich 1956 noch die zehnteilige Hörfolge »Phantastische Geschichten«, die für den stets mit Geldproblemen kämpfenden Schriftsteller »eine wichtige Verdienstquelle « darstellte.53 Dass der Rundfunk in den 1950er Jahren ganz wesentlich zum Lebensunterhalt der Schriftsteller beigetragen hat, bestätigt sich also auch in dieser Arbeitsbeziehung. Zudem unterstützt Eggebrecht, dessen Gehalt im Oktober 1953 auf 1.300 DM festgelegt wurde und bereits 1954 eine Erhöhung erfuhr,54 seinen langjährigen Freund auch privat. Dies ist dokumentiert in mehreren Briefen Eichs, in denen er um Kredit bittet.55

Eggebrecht entwirft allerdings auch die Reihe »Stimmen der Dichter«, für die er ab März 1953 neben Penzoldt auch Stefan Andres, Georg von der Vring, Georg Britting, Wilhelm Lehmann und Karl Krolow vor das Mikrophon holt56 – Autoren, die als Naturlyriker, auch schon im »Dritten Reich« publizierten. Ob ihre Nachkriegsgedichte immer »harmlos« waren, sei dahingestellt. Eggebrecht spricht in seinem Vorwort zur Sendereihe jedenfalls von Dichtern, die heute keine »Bürger« mehr sind, sondern »allenfalls Zeltbewohner gleich Hirten und die ängstigende Nacht ist beunruhigender über ihnen als der helle Tag. Die Droste, Georg Heym, Trakl und Loerke sind ihnen verwandter als etwa Schiller und die Anhänger der Schönheit« – und mag dabei an den dunkel-pessimistischen Ton, wie er vielen Gedichten von der Vrings eigen ist, gedacht haben.57

Stegreiferzähler unter sich: Peter Bamm und Jürgen Eggebrecht in den 1950er Jahren. Foto: © Monacensia, Literaturarchiv und Bibliothek

Ohne Zweifel: Indem Eggebrecht auch »Kalligraphen « zu Wort kommen ließ, sorgte er nach 1945 für Kontinuitäten im Literaturbetrieb, die man an anderem Ort und anderer Stelle programmatisch zu unterbrechen versuchte. Jemand wie Peter Bamm, der schon 1923 Feuilletons für die »Deutsche Allgemeine Zeitung« geschrieben hatte und den Zweiten Weltkrieg als Chirurg in einer Sanitätskompanie mitmachte, hätte wohl kaum bei Andersch vors Mikrophon treten dürfen.58 Gemeinsam mit Eggebrecht und Gregor von Rezzori erzählt er sich im Funk »Stegreifgeschichten « und verfasst auf Anregung Eggebrechts die dann bei den Hörern sehr beliebten und geschätzten Sendereihen »Frühe Stätten der Christenheit «, »An den Küsten des Lichts« und »Alexander oder die Verwandlung der Welt«. Sie erscheinen nach ihrer Radioausstrahlung in Buchform.

Doch wie schon oben erwähnt: Es sind eben auch die Exilautoren und Remigranten, die bei Eggebrecht Gehör finden. Allen voran Hermann Kesten. Als dessen Band »Meine Freunde die Poeten« mit Essays unter anderem über Döblin, Zweig und die Manns 1953 als Buch erscheint, trägt Kesten kurze Zeit später Auszüge in Hannover vor. Eggebrecht leitet ein: »Meine Freunde, die Poeten, nicht x-beliebige, sondern solche, deren Werk und Person dem höchst vernünftigen, dem weitgereisten Hermann Kesten ob ihrer Liebe zum Leben, zum Frieden, zur Humanität teuer sind – mit diesem Kreis der Geistverpflichteten möchte Sie, wenigstens andeutungsweise, die nun folgende Sendung vom Nordwestdeutschen Rundfunk Hannover bekannt machen. Hermann Kesten liest selbst aus seinem intelligent-intimen Buch, das aufs heiterste und also auch aufs ernsteste kleine Porträts von seinen Begegnungen mit Hugo v. Hofmannsthal, Heinrich und Thomas Mann, Stefan Zweig, Toller, Joseph Roth, Erich Kästner, um nur einige zu nennen, Ihnen, verehrte Zuhörer, hinblitzend zeichnet.«59

Aufgrund des Erfolgs, der dem Essayband zuteil wird, animiert Eggebrecht einige Jahre später Freund Kesten zu der Sendung »Dichter im Café«. In ihr sinniert Kesten geistreich über die Frage nach dem spezifischen Zusammenhang von Kaffeehaus und dichterischem Schaffen. Das Buch zur Sendung erscheint erst 1959 im Handel. Ähnlich hat es sich schon bei Gerhart Herrmann Mostar verhalten, dessen »Weltgeschichte – höchst privat« erst von Hannover ausgestrahlt worden ist, ehe sie 1953 in einer sehr hohen Auflage im Verlag Henry Goverts erschienen ist. Auch Mostar hat durch Eggebrecht ein finanzielles Auskommen. Ihre Zusammenarbeit setzt sich fort, unter anderem mit der Reihe »Bis die Götter vergehen «. Im April 1955 läuft die vorletzte Folge. Eggebrecht spricht vorweg einige Sätze. Er erklärt das Konzept der Reihe, die zwar die Historie im Blick hatte, aber mit Bezug zur dunklen Vergangenheit und unmittelbaren Gegenwart: »Wir wollten mit dieser unserer Sendereihe den falschen Auslegungen der Nazis gerade im Hinblick auf die Edda begegnen und keineswegs einem unverständigen Verlangen nach wüstem Heidentum das Wort reden. Uns ging es darum, nachzudenken an Hand einer neuen Interpretation darüber, woher wir gekommen sind.«60

Jürgen Eggebrecht war als Rundfunkredakteur gleichermaßen Inspirator wie Mäzen. Das erkannten seine Freunde und seine Mitarbeiter sehr genau. Heute weiß man von seinen Leistungen hingegen so gut wie nichts mehr. Deshalb seien an dieser Stelle noch ein paar Würdigungen angefügt. Wenn auch einige von ihnen anlässlich von Geburtstagen entstanden sind, so vermitteln sie trotz der schönen Worte, die den Anlässen geschuldet sind, einen lebendigen und authentischen Eindruck von Jürgen Eggebrechts »Radio Days«. Diese gehen zwar nach seinem offiziellen Ausscheiden aus dem Hannoveraner Funkhaus als freier Beiträger und Mitarbeiter weiter – vor allem soll Eggebrecht ab August 1961 für das »Dritte Programm« des Norddeutschen Rundfunks »unter Ausnutzung seiner Beziehungen zu Verlegern und Autoren« werben und sich bemühen, »in namhaften Zeitungen wie z. B. Merkur, Süddeutsche Zeitung u. a. Darstellungen über das gesamte Programm des NDR abdrucken zu lassen«.61 Seine Zeit als Redakteur ist 1959 jedoch endgültig vorbei. Es war ein fruchtbares Jahrzehnt.

Ein frühes Zeugnis, das noch in die aktive Zeit Eggebrechts fällt, ist ein Brief von Walter Jens vom März 1957. Darin schreibt er: »Auf unsere Arbeit freue ich mich riesig: wahrscheinlich sind Sie, so sagte meine Frau neulich, heute der einzige wirkliche Mäzen in Deutschland, Mäzen unter lauter Funkgeldverwaltern, denn nur Sie wissen, was die Autoren schreiben müssen und folglich schreiben sollen.«62 Zum 75. Geburtstag dann folgen zahlreiche Artikel, Sendungen, Glückwünsche. Reimar Hollmann von der »Neuen Hannoverschen Presse« konstatiert, dass Eggebrecht »einen der produktivsten Abschnitte hannoverscher Rundfunkgeschichte« verkörpere. »Fabulierer und Schnurrenerzähler, war er weniger Organisator als Inspirator.«63 Wolfgang Jäger, der Hamburger Hörfunk-Programmdirektor, schreibt einen persönlichen Brief, in dem es heißt: »Lieber Jürgen Eggebrecht, zu Ihrem 75. Geburtstag möchte ich Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche sagen. Dieses unwahrscheinliche Datum ist Anlaß genug, wieder einmal festzustellen, was der Norddeutsche Rundfunk Ihnen alles zu verdanken hat. Sie haben in den fünfziger Jahren Autoren dazu ermuntert, für den Funk zu schreiben, die diesem Medium treu geblieben sind.«64 Und Christian Gneuss, der 1956 unter Eggebrecht Redakteur geworden ist und 1961 die Leitung der Abteilung »Kulturelles Wort« übernahm, widmet seinem einstigen Chef zum 75. eine einstündige Sendung. Darin würdigt er auch ausgiebig den Rundfunk-Publizisten: »Der Leiter der Abteilung ‚Kulturelles Wort‘ im Funkhaus Hannover des Nordwestdeutschen, später Norddeutschen Rundfunks, wurde zum Katalysator einer neuer Art, Literatur im Radio zu präsentieren, deutlich abgesetzt von der verlogenen Weihestimmung des »Schatzkästleins « unseligen Angedenkens. Und was versammelte Jürgen Eggebrecht damals nicht alles an Namen um sich: Für Günter Eich, Gregor von Rezzori, Gerhart Herrmann Mostar, Peter Bamm hat er die Mikrophone bereitgestellt und diese Autoren dadurch einem Publikum bekannt gemacht, das viel breiter war, als die traditionellen Leserschichten. Popularisierung und damit Demokratisierung – eine Forderung, die heute in aller Munde ist –, er hat sie schon in den fünfziger Jahren mit Erfolg praktiziert, ohne dabei je in Trivialisierung zu verfallen.«65

Schließlich sei noch aus einem Schreiben des NDRIntendanten Martin Neuffer zum 80. Geburtstag zitiert: »Wenn die Redaktion ‚Kulturelles Wort‘ im Funkhaus Hannover des NDR noch immer als ein Markenzeichen für Güte gilt, so ist das in erster Linie Ihr Verdienst […]. Indem Sie das gesprochene Wort, das Erzählerische, das ‚Narrative‘ – wie Sie selber oft sagen – zum Signum für die Vermittlung von Literatur im Rundfunk erklärten, haben Sie viele der ‚medienspezifischen‘ Theorien von heute durch Ihre Praxis bereits vorweggenommen.«66 Eggebrecht beantwortet den Brief des Intendanten. Noch einmal steigt die Vergangenheit vor seinem geistigen Auge empor. Er erinnert sich an seine Anfänge beim Radio, dem er 1952 bescheinigte, »der Puls des modernen Menschen« zu sein.67 Gleichzeitig reflektiert er die alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Aufbruchsstimmung der frühen 1950er Jahre, die auch ihn damals ergriffen hat. »Als ich nach Hannover kam, herrschten dort einmalige Verhältnisse. Von außen gesehen, lag alles im Argen, war kaputt, zerstört, in Unordnung. Doch vom Kern her breitete sich das Leben aus, Aktivität, Aufbau, im Nu begriffene Pläne, größte Hoffnungen auf die Zukunft. Dieser mächtige Impuls hat mich befeuert und mitgerissen, machte meine Arbeit sinnvoll.«68

4. Resümee

»Ein bisschen zu erbaulich«, »Harmlos«, »In Kleinigkeiten verliebt« – so lautete das eingangs zitierte Urteil Joachim Kaisers über die Schriftsteller, die Jürgen Eggebrecht bei sich im Funkhaus hat lesen und sprechen lassen. An dieses Urteil schloss sich die Frage an, warum ein einst renommierter Rundfunkredakteur wie Jürgen Eggebrecht mittlerweile so gut wie vergessen ist. Besteht möglicherweise eine Verbindung zwischen der Kritik und dem im öffentlichen literarischen Diskurs von heute nicht mehr präsenten Namen Eggebrecht? Man kann diese Frage bejahen. Denn Kaisers Sicht auf den beinahe dreißig Jahre älteren Kollegen Jürgen Eggebrecht impliziert die Bevorzugung von Radioschaffenden anderer Sender als des kleinen Hauses in Hannover, etwa von Alfred Andersch in Stuttgart. Damit einher geht die Wertschätzung anderer Autoren. Bedenkt man die Medienmacht eines Teils der bundesrepublikanischen Intellektuellen-Elite nach 1945, für die Joachim Kaiser hier beispielhaft steht, dann wird die Bildung eines Autorenkanons, wie er noch heute unser Bild von der Literatur nach 1945 bestimmt, nachvollziehbar. Darin kommt eine große Gruppe von Schriftstellern nicht mehr vor. Der Aufsatz nennt einige von ihnen. Ebenso wenig kommen zahlreiche Protagonisten des Literaturbetriebs vor, die einst in den Funkhäusern den Schriftstellern ihre Aufträge verschafft haben. Mit Jürgen Eggebrecht wird einer der wichtigsten Rundfunkredakteure der frühen Bundesrepublik wieder ins literarische Gedächtnis zurückgerufen.

Wie der Querschnitt durch die Rundfunktätigkeit von Jürgen Eggebrecht zeigt, hat dieser in den 1950er Jahren eine breite Vielfalt an Autoren zu Wort kommen lassen. Das war möglich, weil Eggebrecht keiner literarischen Gruppierung angehörte. Bei Eggebrecht lasen junge ebenso wie ältere Schriftsteller, Exilanten ebenso wie so genannte »Innere Emigranten « und Autoren der »Gruppe 47«. Eine einseitige Präferenz Eggebrechts für etablierte Vorkriegs-Autoren sowie für Exilanten ist daher nicht zu konstatieren. Ebenso wenig ist festzustellen, die im Funkhaus Hannover gesendete Literatur sei per se »zu harmlos « gewesen. In Teilen mag das zugetroffen haben. Zu bedenken wäre allerdings, dass selbst eine vordergründig »harmlos« scheinende Sendereihe wie Mostars »Bis die Götter vergehen« von Jürgen Eggebrecht als Korrektiv für eine zwölf Jahre währende, die alten Mythen vollkommen missbrauchende Rezeption angesehen wurde.

Freilich weisen Sendungen, wie die über die Antike, Eggebrecht als einen Menschen aus, dem der Glauben an ein bürgerliches Bildungsideal trotz Nazi- Diktatur nicht abhanden gekommen ist: Skepsis ja. Existentialismus nein. Eggebrechts Schaffen sieht sich dem Geist der Humanität verpflichtet. Manch einem seiner Funkprogramme ist deshalb ein didaktischer Anspruch ebenso wenig abzusprechen wie ein erbaulicher Tonfall. Möglich auch, dass in diesem immer wieder das pastorale Erbe seines Vaters sich zu Wort meldet. Anders gesagt: Eggebrecht ist Jahrgang 1898. Seine Sozialisation bedingt andere Autoren und Themen. Als Redakteur greift er selbstverständlich auf das Netzwerk von Schriftstellern zurück, das er sich ab Mitte der 1920er Jahre in München, Stuttgart und Berlin als junger Lyriker und Lektor der Deutschen Verlagsanstalt aufgebaut hatte.

Zuletzt gilt festzuhalten: Eggebrechts Rundfunkära währte krankheitsbedingt relativ kurz. Gerade einmal eine Dekade. Als er 1959 aus dem Funk ausscheidet, ist er 61 Jahre alt. Wäre er gesund geblieben, hätte er sicherlich noch die 1960er Jahre auf die eine oder andere Weise prägen können. So endet seine Funkkarriere in jenem Jahr, das mit der »Blechtrommel « von Günter Grass, den »Mutmaßungen über Jakob« von Uwe Johnson und »Billard um halbzehn« von Heinrich Böll endgültig die Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit stilistisch wie inhaltlich überwindet und eine neue Epoche einläutet. Es ist die Epoche, in der die »Gruppe 47« erst wahrhaft ihren Siegeszug antritt, bis sie Jahre später an ihrer stetig zugenommenen Machtfülle zugrunde geht. Ihre Autoren jedoch existieren noch heute in unserem literarischen Gedächtnis. Andere hingegen nicht mehr.

  1. Zitiert nach Florian Welle: Die Neugier und ihre Nischen. Erker bis Akzente: Eine Münchner Debatte über Literaturzeitschriften. In: Süddeutsche Zeitung, 10. Februar 2009.
  2. Axel Schildt: Ein Jahrzehnt des Wiederaufbaus und der Modernisierung. Zur Sozialkultur und Ideenlandschaft der fünfziger Jahre. In: Monika Estermann und Edgar Lersch (Hrsg.): Buch, Buchhandlung und Rundfunk 1950–1960. Wiesbaden 1999, S. 19.
  3. Aufbruch in Nietenhosen. 1945 befreiten die Alliierten Deutschland. Wann befreiten sich die Deutschen selbst? Ein Streitgespräch mit dem Schriftsteller Peter Schneider und dem Historiker Hans-Ulrich Wehler. In: Die Zeit. Geschichte. Nr. 1, 2009, S. 50.
  4. Henriette Kaiser und Joachim Kaiser: Ich bin der letzte Mohikaner. Berlin 2009, S. 193.
  5.  Joachim Kaiser: Der letzte Mohikaner. Veranstaltung am 21. April 2010 in der Monacensia, Literaturarchiv und Bibliothek. Moderation: Florian Welle. – Zitate im Folgenden nach dem Tonbandmitschnitt. Monac., 7009232. – Von der »Blütezeit des Kulturradios« schreibt Hans-Ulrich Wagner: Ein symbiotisches Verhältnis. Der Rundfunk und das literarische Leben im Nachkriegsdeutschland. In: Bernd Busch und Thomas Combrink: Doppelleben. Literarische Szenen aus Nach- kriegsdeutschland. Materialien zur Ausstellung. Göttingen 2009, S. 234.
  6. Joachim Kaiser: Der letzte Mohikaner.
  7.  Klaus Figge: Alfred Andersch als Radiomacher. In: Irene Heidelber- ger-Leonhard und Volker Wehdeking: Alfred Andersch. Perspek- tiven zu Leben und Werk. Opladen 1994, S. 42–50; Matthias Liebe: Alfred Andersch als Gründer und Leiter des »Radio-Essays«. In: Ebd., S. 171–177. – Zum »Nachtprogramm« vgl. vor allem Monika Boll: Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik. Münster 2004.
  8.  Nachlass Jürgen Eggebrecht in der Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek. JE B 344 = Jürgen Eggebrecht Briefe, Konvolut NWDR. Im Folgenden wird – so weit nicht anders angegeben – mit dieser Sigle und entsprechender Nummer zitiert.
  9.  Programmpapier vom 1. August 1948 von Alfred Andersch. Hier zitiert nach Klaus Figge: Alfred Andersch als Radiomacher, S. 44.
  10.  Henriette Kaiser und Joachim Kaiser: Ich bin der letzte Mohikaner, S. 84–97.

Bibliografische Angabe

Florian Welle (2010): »Bei uns im Funk«. Jürgen Eggebrecht 1949–1959: Ein in Vergessenheit geratener Rundfunkredakteur der frühen Bundesrepublik. In: Rundfunk und Geschichte. 36. Jahrgang, Nr. 3/4 - 2010. Online: https://rundfunkundgeschichte.de/artikel/bei-uns-im-funk/

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